Evenila - die Geschichte eines bewegten Lebens oder auch "Man weiß nie, was hinter der nächsten Ecke wartet!"

Geschichten aus Tolkiens Welt vom Herrn der Ringe und anderen Werken.
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Evenila
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Re: i.A.: Evenila - die Geschichte eines bewegten Lebens oder auch "Man weiß nie, was hinter der nächsten Ecke wartet!"

Ungelesener Beitragvon Evenila » Sonntag 8. September 2019, 18:41

Fortsetzung

Romantik und neue Erkenntnisse

Ritter Pelendur erhob sich und bestand darauf, dass sie seinen Sitzplatz auf dem Baumstumpf einnahm. Anschließend versorgte man sie mit heißer Suppe, Brot, Kräutertee und auf ihren Wunsch hin auch mit einem Becher Pflaumenschnaps. Nachdem sie sich gestärkt und sich hinter den Zelten an einem Bachlauf gewaschen hatte, bat man sie, haarklein zu berichten, was ihr widerfahren war. Während sie noch einmal alles von Beginn an seit ihrer ersten Ankunft in Thal erzählte, schüttelten die Männer einige Male abwechselnd vor Zorn, Abscheu und Mitleid den Kopf. Auch der ein oder andere empörte Zwischenruf war zu hören und Fiondil blickte sie voller Mitgefühl, aber auch mit einem leichten Vorwurf an. „Warum nur hast mir nicht früher geschrieben und mir von all dem erzählt?“ konnte sie in seinen Augen lesen.
Als sie geendet hatte, sagte Pelendur an Fiondil gewandt: „Nun kann ich völlig verstehen, warum du diese Reise unbedingt antreten wolltest. Wahrhaftig, Ich hätte an deiner Stelle nicht anders gehandelt.“ An Evenila gerichtet fuhr er fort: "Meine Dame, ich bedaure es zutiefst, dass Ihr Euch solcher Unbill ausgesetzt saht! Umso mehr erfreut es mich, dass wir Euch aus dieser schlimmen Lage befreien konnten!“ Sie neigte dankend den Kopf. Pelendur fügte hinzu: „Aber abgesehen davon, dass die Dame der Hilfe bedurfte, wäre ich sicherlich auch allein ihrer Schönheit und ihres Liebreizes wegen in den kalten Norden gezogen!“ Er vollführte eine dienstbare Verbeugung.

Evenila lächelte verlegen, mit galanten Höflichkeiten dieser Art konfrontiert fühlte sie sich stets unsicher und wusste nie so recht, wie sie angemessen darauf reagieren sollte.
Pelendur nahm Fiondil dessen leeren Becher ab und schlug vor: „Vielleicht möchtet ihr einen kleinen Spaziergang unternehmen? Immerhin hatte die Dame Evenila in den letzten Tagen oder gar Wochen weder frische Luft, noch Gelegenheit zur Bewegung. In der hiesigen Gegend sind keine Gefahren zu erwarten und in dieser Richtung….“, er wies zu einem flachen, felsigen Hügel hinüber, der mit rosafarbenen Wiesenblumen und niedrigen Wacholdersträuchern bewachsen war „…Habe ich vorhin einen idyllischen Quellteich gefunden. Wir beide wollten nun ohnehin das Lager aufräumen und das Geschirr aufwaschen, nicht wahr, Arciryas?“ Er stieß den Angesprochenen, der auf dem Boden im Gras saß, leicht mit der Stiefelspitze an. „Bitte, was, wie?“ Arciryas hatte überrascht den Kopf gehoben. „Aber wir haben doch vorhin…“. Pelendur warf ihm einen bedeutungsvollen Blick zu und unterbrach ihn: „Du hast vorhin selbst gesagt, dass es ihm Zelt aussieht, als wenn Orks dort geplündert hätten!“
Arciryas blinzelte für einen Sekundebruchteil orientierungslos, dann schlug er sich mit der flachen Hand an die Stirn und rief zustimmend: „Ja, richtig! Wir können es einer Dame unmöglich zumuten, in solch einem Durcheinander zu nächtigen! Natürlich, entschuldige!“ Er sprang auf die Füße und sagte zu Fiondil und Evenila: „Dann auf, auf, ihr beiden, und bis später! Wir räumen hier inzwischen herum und machen sauber!“

Eine leichte Röte überzog Fiondils Wangen, er bot Evenila den rechten Arm, um sich unterzuhaken und führte sie in die gewiesene Richtung. Die Sonne neigte sich bereits dem westlichen Horizont zu und tauchte die bergige Landschaft in ein rötlich oranges Licht. Hin und wieder kam ein leichter Windhauch auf, der das halbhohe Gras und die Blumen bewegte und rund umher ertönte ein lautes Grillenkonzert. Als sie ein Stück gegangen waren, sagte Fiondil leise: „Ich freue mich so unbeschreiblich, dich wiederzusehen, auch wenn die Umstände, die dazu führten, alles andere als schön waren. Du hast mir gefehlt und ich wusste gar nicht, was ich anstellen sollte.“
Evenila antwortete nicht gleich, sondern horchte in sich hinein, um sich endgültige Gewissheit über ihre Gefühle zu verschaffen. Sie hatte Fiondil ebenfalls furchtbar vermisst, schließlich hatten sie sich über vier Jahre lang fast jeden Tag gesehen und er war ihr bester Freund und Vertrauter. Und nun, da sie wieder zusammen waren, kam es ihr so vor, als wenn das einfach so gehörte. Sie drehte den Kopf, musterte sein Profil, das kantige, glattrasierte Gesicht mit der leicht zu großen Nase und den markanten Wangenknochen, die blaugrauen Augen, das lange schwarze Haar und ein Gefühl tiefer Zuneigung durchströmte sie.

„Ich bin immer noch überwältigt, dass du tatsächlich hierher gekommen bist, um mir zu helfen. Und werde mich wohl niemals dafür revanchieren können!“ Er zog tadelnd die Augenbrauen zusammen und antwortete: „Als wenn ich das erwarten würde! So etwas tut man eben für die Frau die man...“, er unterbrach sich, lächelte unsicher und fuhr fort , „… Die man liebt! So, jetzt ist es raus. Aber vermutlich hast du dir das ohnehin schon denken können.“

Währenddessen waren sie um einen mehr als mannshohen Felsen gebogen und fanden dort die Quelle, die Pelendur gemeint hatte. Wasser plätscherte zwischen flechtenbewachsenen Felsen hervor in ein steiniges, kleines Becken und floß von dort in vielen schmalen, verzweigten Rinnsalen einem breiteren Bachlauf am Fuße des Hügels zu. Bitteres Schaumkraut und Brunnenkresse wucherten in dem kleinen Tümpel und leuchtend gelb blühende Butterblumen umkränzten ihn. Dahinter erhob sich eine einzelne, alte und vom Wind geformte Schwarzkiefer. Es roch nach feuchter Erde und Kräutern. Sie blieben stehen und bestaunten schweigend die Schönheit dieses Ortes.

Evenila war der Platz so magisch und unecht vorgekommen, dass es sie nicht gewundert hätte, wenn sie und Fiondil versehentlich durch ein unsichtbares Portal in irgend einem Feenreich gelandet wären. „Wie in einem fantastischen Märchen“, dachte sie, „Bestimmt macht es jetzt gleich ‚Puff!‘ und ich sitze in der Wirklichkeit wieder im Kerker!“ Sie kicherte albern, wandte sich zu ihm um und sagte leise: „Entschuldige! Ich hatte nur gerade einen unsinnigen Gedankengang. Ich… Ja!... ich wusste es. Am Tag meiner Abreise ist es mir quasi wie Schuppen von den Augen gefallen. Manchmal bin ich gar nicht so schlau, wie ich´s mir einbilde, sonst hätte ich es sicher früher gemerkt!“ Sie senkte die Stimme noch einmal und flüsterte fast: „Weißt du, ich liebe dich auch! Das hab´ich auch nicht gleich kapiert. Ich bin wohl hin und wieder schwer von Begriff!“
Fiondil sah Evenila an und lächelte. „Bist du nicht“, entgegnete er, „Manchmal müssen wir Menschen wohl etwas zunächst verlieren, bevor wir die Wahrheit darüber erkennen!“ Mit diesen Worten neigte er sein Gesicht zu dem ihren hinunter, schloss dann die Augen und küsste sie.

Kein Grillenzirpen, kein Wind, kein Kräuterduft war mehr zu ihr durchgedrungen, zumindest verbannte ihr Geist das alles als unwichtig aus ihrer Wahrnehmung. Sie legte die Arme um Fiondils Schultern und erwiderte den Kuss innig. Nach geraumer Zeit, es mochte etwa eine halbe Stunde gewesen sein - zumindest dämmerte es inzwischen - lösten sie sich voneinander und setzten sich auf einen moosbewachsenen Felsblock. Fiondil legte den Arm um ihre Taille. „Ich möchte künftig nicht noch einmal ohne dich leben müssen“, sagte er, „Es war furchtbar!“. Sie antwortete nicht, lehnte stattdessen den Kopf an seine Schulter. „An diesen Augenblick möchte ich mich gern für den Rest meines Lebens erinnern können“, dachte sie im Stillen, „Und wenn es mir irgendwann aus irgend einem Grund schlecht geht, dann werde ich mir dies hier in allen Einzelheiten ins Gedächtnis rufen!“

Nachdem die Sonne untergegangen war, wurde es schnell kühl und sie beschlossen, dass es nun Zeit wäre, ins Lager zurückzukehren. Händchenhaltend spazierten sie zu den Zelten, wo Arciryas und Pelendur inzwischen für eine geradezu bilderbuchmäßige Ordnung gesorgt und auch sämtliches Geschirr gesäubert hatten.

Die viereinhalb Wochen, die sie für die Rückreise nach Minas Tirith benötigten, waren ihr wunderbar erschienen und sie hatte trotz des anstrengenden Ritts jeden einzelnen Moment genossen. Wenn sie sich heutzutage daran erinnerte, kam es ihr geradezu wie ein schöner Traum vor, der ihr einmal zuteil geworden war.
Dann konnte man die Mauerringe und Türme der Stadt in weiter Ferne erahnen, im Dunst zeichneten sie sich weißschimmernd gegen die dunkle Flanke des Mindolluin ab.
Die Gruppe überquerte den Anduin bei Cair Andros und Pelendur schlug vor, in einer einladend aussehenden Herberge zu übernachten, die am Rande des schmucken Dörfchens Parth Duin lag. Die restliche Strecke nach Minas Tirith wollten sie dann am folgenden Tag zurücklegen. Fiondil zahlte den Söldnern die zweite Hälfte des vereinbarten Geldes aus und entließ sie aus seinen Diensten.
In der Schankstube herrschte bereits ein reger Andrang. Mit fortschreitender Stunde kam auch eine fröhliche Stimmung hinzu, es wurde getrunken, gelacht und gesungen. Trotz ihrer Müdigkeit von der Reise hielten die vier es bis kurz vor Mitternacht aus, dann beschlossen sie alle, schlafen zu gehen.
Da die Herberge gut belegt war, mussten sie sich die zwei einzigen noch freien Zimmer teilen. Evenila und Fiondil bezogen das eine davon, Arciryas und Pelendur das andere.

Evenila öffnete die Tür und fand einen kleinen, aber gepflegten Raum vor, mit einem Fußboden aus schweren, dunklen Holzbohlen, auf dem ein paar Schaffelle ausgebreitet waren. Eine Laterne an der Wand und ein Kerzenhalter auf einem Beistelltischchen waren von den Mägden bereits entzündet worden. Gegenüber der Tür hing ein großer Kranz aus getrockneten Rosen und Lavendelblüten. Links und rechts der Zimmertür stand jeweils ein Bett an der Wand, mit sauberem Leinenzeug darauf. Durch ein Fenster, welches zum Gemüsegarten hinaus ging, fiel silbriges Licht auf den Boden, denn der Mond war fast voll und der Nachthimmel wolkenlos.

Sowohl Fiondil, als auch Evenila hatten recht verlegen und zurückhaltend reagiert, als klar wurde, dass sie in einem Zimmer schlafen mussten und seitdem herrschte eine unterschwellige Anspannung zwischen den beiden. Sie stapelte ihr Gepäck am Fuß des Bettes, zog Stiefel, Übergewand und Hose aus und legte sich in ihrer knielangen, weißen Untertunika ins Bett. Dann wünschte sie Fiondil eine gute Nacht und wickelte sich in ihre Decke.
Fiondil entkleidete sich bis auf die Hose, löschte die Kerzen und legte sich ebenfalls hin.
Er erzählte noch ein paar lustige Anekdoten, die sich in ihrer Abwesenheit ereignet hatten und sie lachten darüber, es klang jedoch gezwungen. Nach einer Weile schwieg Evenila und starrte an die Zimmerdecke. Fiondil sagte ebenfalls nichts mehr. Evenila hatte das Gefühl, dass die Spannung beinahe greifbar in der Luft hing und man sie hätte in Würfel schneiden können. Viele Minuten verstrichen in Stille und sie fragte sich, ob er eingeschlafen war. „Schläfst du schon?“ fragte sie in seine Richtung. „Nein!“ kam die Antwort von drüben und seine Stimme klang irgendwie heiser.

Sie dachte nach. Einige Male hatte sie Gespräche gehört oder Bruchstücke davon aufgeschnappt, in denen die Rede davon war, dass "eine Frau keinesfalls zu früh mit einem Mann ins Bett steigen solle“. Welche Wartezeit war denn angemessen? Was, wenn man denjenigen schon seit Jahren bestens kannte, aber sich gewisse Dinge eben erst vor nicht allzu langer Zeit entwickelt hatten? Dann traf sie eine Entscheidung. Sie stand leise auf, tapste im Mondschein zur anderen Seite des Zimmers hinüber und setzte sich zu ihm auf das Bett. Er wirkte sehr überrascht, schlug dann aber seine Decke für sie zurück und sah sie im schwachen Licht an, als wenn sie irgend eine Traumerscheinung wäre.
Evenila zog ihre Tunika über den Kopf und ließ sie auf den Boden fallen.
Dann jedoch verflüchtigte sich ihr plötzlicher Mut und sie stammelte: „Fiondil, also, nicht dass du jetzt denkst… ich habe vorher noch nie… also, du weißt schon…“, sie spürte förmlich, wie sie puterrot wurde und hoffte, dass man dies bei den Lichtverhältnissen nicht sehen konnte. „Ich auch nicht!“ antwortete er rauh, „Ich habe...Bücher darüber gelesen. Aber wir werden uns der Sache gemeinsam stellen.“ Evenila kicherte leise, was ihrer Nervosität geschuldet war und kroch zu ihm unter die Decke.
Eine Weile später war alles, was andere Leute vielleicht denken mochten, belanglos und Welt außerhalb des Zimmers existierte nicht mehr. Als dann draußen die ersten Vögel ihr Morgenlied anstimmten, schlummerten beide schließlich eng umschlungen ein.


Diesmal wurde Evenila nicht bei Sonnenaufgang wach. Vielmehr schlief sie, oder besser gesagt, schliefen sie beide, bis draußen höflich, aber dennoch nachdrücklich an die Tür geklopft wurde. „Aufgestanden, ihr beiden Turteltäubchen!“, drang Arciryas Stimme fröhlich von draußen herein, „Es ist bereits heller Tag und die Sonne scheint! Frühstück ist auch schon lange aufgetragen und bisher konnte ich Pelendur erfolgreich davon abhalten, alles allein aufzuessen! Aber ich weiß nicht, wie lange noch!“ Er klopfte sicherheitshalber noch einmal, war aber natürlich diskret genug, die Tür nicht zu öffnen.

Evenila schrak hoch, sprang aus dem Bett und schubste Fiondil ein paarmal an. Der öffnete nur widerwillig die Augen und murmelte schlaftrunken: „Guten Morgen, meine Weiße Mondblume“. Sie warf ihm eine Kusshand zu, kleidete sich halb an und huschte die Treppe hinunter in den Waschraum. Mit stolzgeschwellter Brust hatte der Herbergswirt ihnen gestern Abend diese Einrichtung gezeigt und darauf hingewiesen, dass sie selbstverständlich all seinen Gästen zur Verfügung stand.
Dort gab es eine Schwengelpumpe, schulterhohe, gemauerte Trennwände als Sichtschutz, Bottiche und Seife, sowie große, saubere Baumwolltücher, um sich abzutrocknen. In der Mitte des Bodens hatte man einen Abfluss installiert. Evenila übergoss sich in einem kleinen Zuber einige Male mit Wasser. Zwar stand nur kaltes zur Verfügung, dennoch stellte so ein Waschzimmer für sie einen unerhörten Luxus dar. In Thal oder Esgaroth verfügten selbst die reichsten und wichtigsten Leute nicht über eine solche Einrichtung, waren vermutlich auch noch niemals auf so eine Idee gekommen. In Gondor war sie in vielen Häusern gang und gäbe und in den Städten gab es Badehäuser.
„Wir sind eine zivilisierte Stadt!“ äffte Evenila die Worte von Hauptmann Dunstan nach, während sie sich einseifte. „Pah! Das ich nicht lache!“ Fiondil stolperte hinein und begann seine Morgentoilette damit, sich den Kopf unter die Wasserpumpe zu halten. Er tastete mit den Zeigefingern über sein Kinn und die Wangen und überlegte offenbar, ob er sich rasieren sollte, sah dann jedoch davon ab.
Evenila wandte ihm den Kopf zu und fragte neckend: „Soso, du hast also Bücher darüber gelesen? Erzähl´mir mehr!“ Fiondil grinste, zuckte mit den Schultern und erklärte: „Da gibt’s gar nicht viel zu erzählen. Mein älterer Bruder besaß ein paar… recht interessante Schriften zu dem Thema, sogar mit einzelnen Kupferstichen, die Abbildungen dazu zeigten. Ich weiß nicht, ob er die jetzt noch hat, seitdem er verheiratet ist. Und, ob du´s glaubst oder nicht, sie verfügen sogar in der Tham en-Haelas über zwei Werke dazu, in denen es nicht nur um die anatomischen Belange geht. Die befinden sich in der kleinen Bibliothek im ersten Stock, im linken Eckregal auf dem obersten Brett - ich habe diese Bücher vor Jahren mal zufällig entdeckt!“ Er ergänzte belustigt: „Vielleicht muss man als vollständiger Gelehrter auch darüber Bescheid wissen!“

Nachdem sie fertig angezogen in der Gaststube erschienen waren und ihr Frühstück eingenommen hatten, wurden die Pferde gesattelt und die Gruppe brach zur letzten Etappe auf. Fiondil hatte ihr nach der Hälfte der Reise bereits mitgeteilt, dass er sie seinen Eltern als seine Verlobte vorzustellen gedachte. Also ritten sie, nachdem sie sich am Stadttor ausgiebig und herzlich von Pelendur und Arciryas verabschiedet hatten, zum Anwesen seiner Familie im vierten Ring der Stadt.
Ende gut, alles gut? Nein. Natürlich nicht, denn ansonsten hätte diese Geschichte ja nicht in Bree begonnen.



--Fortsetzung folgt
"Das Leben ist ein dorniger Rosenstock und das Glück die Blüte."

"So, könnt ihr alle noch schnaufen? Ich will ja nicht schuld sein,
wenn jemand während des Tanzens erstickt!"

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Re: i.A.: Evenila - die Geschichte eines bewegten Lebens oder auch "Man weiß nie, was hinter der nächsten Ecke wartet!"

Ungelesener Beitragvon Evenila » Mittwoch 11. September 2019, 23:38

Fortsetzung


Fehlender Adel, ein Neuanfang und Unheil am Horizont

Am Anwesen seiner Familie angelangt, hatte Fiondil das Gepäck vom Rücken der Pferde abgeladen, die Tiere einem Stallknecht übergeben und dann geräuschvoll und unter lauten „Ich bin zurück!“-Rufen die Haustür aufgerissen. Binnen kürzester Zeit waren alle Hausbewohner in der Eingangshalle versammelt gewesen.
Von seiner Mutter wurde er geradezu überschwänglich begrüßt. Seinem Vater war die Erleichterung über die sichere Heimkehr seines Sohnes deutlich am Gesicht abzulesen gewesen, er hatte sich jedoch weniger emotional gegeben. Auch Evenila war von ihnen freundlich willkommen geheißen worden, jedoch hatte sie dabei den unbestimmten Eindruck, dass der Funke nicht so recht überspringen wollte. Da hatte Fiondil sie soeben allen Anwesenden als seine Verlobte präsentiert.
Ohne, dass Evenila es an irgendetwas konkret hätte festmachen können, hatte sie das Gefühl, seinen Eltern in Wahrheit nicht so willkommen zu sein, wie sie es bekundeten. Fiondils Bruder Súrion und dessen Ehefrau Brethilas hingegen schienen sie vom ersten Augenblick an zu mögen und waren aufrichtig herzlich zu ihr gewesen. Das Personal, bestehend aus einem Koch, einer Zofe, einem Knecht und einer Hausdame hielt sich dezent im Hintergrund, verneigte sich aber bei Blickkontakt höflich.
Súrion sah fast aus wie eine ältere Ausgabe Fiondils. Seine Frau Brethilas, eine kleine, zierliche Person mit kastanienfarbenem Haar, heller Haut und jadegrünen Augen, hatte Evenila angestrahlt und schien generell eine Frohnatur zu sein. Fiondils Vater Vëantur war ein großgewachsener Mann, nicht ganz so groß wie seine beiden Söhne, aber breitschultriger und kräftiger gebaut. Trotz seines fortgeschrittenen Alters wirkte er drahtig und athletisch. Sein vermutlich einstmals pechschwarzes Haar und der Vollbart waren inzwischen vollständig ergraut. Fiondils Mutter Ailinn, ebenfalls recht groß gewachsen und grauhaarig, war von eher durchschnittlichem Aussehen und auf den ersten Blick wenig auffällig. Dennoch strahlte sie eine besondere Würde und Selbstbewusstsein aus, wodurch sie auf eine subtilere Weise die Aufmerksamkeit auf sich zog.
Sie lud Evenila ein, ihre Sachen ins Gästezimmer zu bringen, Fiondil äußerte jedoch sogleich, dass Evenila zu ihm in die zwei Zimmer ziehen würde, die er im Dachgeschoss bewohnte.

In den zwei folgenden Tagen war dann viel erzählt worden. Fiondil schilderte die Hin- und Rückreise nach Thal und Evenila berichtete von den schrecklichen Vorkommnissen, mit denen sie dort konfrontiert gewesen war. Fiondils Eltern, vor allem Vëantur, wollten alles ganz genau erfahren und fragten immer wieder nach, so dass sich Evenila zeitweilig fast schon in einer Art Verhör glaubte. Insbesondere schien dabei ihre Herkunft und die Familie zu interessieren. Evenila fühlte sich immer unbehaglicher und es kam ihr vor, als ob Vëantur und Ailinn das, was sie hörten, nicht sonderlich gefiel. Obwohl sie weiterhin sehr höflich blieben und sich nichts anmerken ließen. Dies hatte jedoch zur Folge, dass Evenila sich bald bemühte, Fiondils Eltern möglichst wenig über den Weg zu laufen.
Zum Glück gestaltete sich dies als nicht sehr schwierig, da Vëantur den ganzen Tag außer Haus war, seinem Dienst nachging und seine Falkenzucht beaufsichtigte. Ailinn traf sich häufig mit Frauen aus der Nachbarschaft oder engagierte sich in einer Suppenküche für bedürftige Stadtbewohner. Gleichzeitig fragte sich Evenila, ob sie sich diese Distanz, die Fiondils Eltern ihr gegenüber zu wahren schienen, vielleicht nur einredete.

Glücklicherweise war sie nicht allein im Haus, da Fiondil keinen Unterricht in der Tham en-Haelas mehr besuchte. Kurz, bevor Evenilas Brief bei ihm eingetroffen war, hatte er erfolgreich die Prüfung zum Geringeren Meister bestanden.
Nun überlegte er, ob er weiter studieren sollte, um den nächsthöheren Meistergrad zu erreichen oder nach einer Anstellung suchen sollte. „Ich wünschte so sehr, ich hätte die Prüfung noch schreiben können“, hatte Evenila an einem Abend geklagt, „Jetzt habe ich zwar studiert, aber ich habe keinen Abschluss. Mir fehlt der Unterrichtsstoff eines knappen halben Jahres… das ist schon… gesalzen! Also, um ihn selbst nachzulernen, meine ich.“ Fiondil sah nachdenklich und betrübt drein. „Das ist wohl wahr. Zwar traue ich mir einiges zu, aber zu glauben, dass ICH dich in all den Fächern auf den erforderlichen Stand bringen könnte - das scheint mir doch ziemlich vermessen!“ Er seufzte. „Der neue Lehrgang hat kürzlich begonnen und ist voll belegt, ich habe in der Tham en-Haelas bereits für dich angefragt.“ Traurig ergänzte er: „Ich hatte eigentlich gehofft, dir eine Zusage als Überraschung überbringen zu können. Daraus ist zu meinem größten Bedauern nichts geworden“.
Evenila senkte den Kopf. Eine Weile sagte sie nichts und kaute gedankenverloren auf ihrer Unterlippe. Dann schlug sie mit der rechten Faust gegen die Handfläche der linken Hand stellte fest: „Also gut, es ist, wie es ist, wir können es ja nicht ändern. Aber einfach hinnehmen steht nicht zur Diskussion. Ich will es wenigstens versuchen. Bitte, Fiondil, hilf mir dabei, den Stoff nachzuholen, den ich verpasst habe! Und wenn ich die erforderlichen Bücher dazu auffressen müsste!“

Daraufhin hatte er lachen müssen. „Diese Bilder möchte ich lieber nicht in meinem Kopf haben, vielen Dank auch!“ Sie alberten noch eine ganze Weile herum und beschlossen dann, dass sie ebenso gut sofort mit der Arbeit beginnen konnten.
Die Tage vergingen und Evenila war mit vollem Einsatz bei der Sache. Sie fühlte sich dabei ständig an ihren damaligen Unterricht in elbischer Sprache erinnert, immerhin war der Lehrmeister ja der gleiche. Nur, dass der Lehrmeister jetzt ihr Geliebter war und beabsichtigte, sie in nicht allzu ferner Zeit zu heiraten.

So ging es weiter, bis ihr an einem Tag auffiel, dass Fiondil sich stiller verhielt als gewohnt, weniger lächelte und irgendwie bedrückt wirkte. Darüber war Evenila ziemlich verwundert gewesen, da sie so einen Zug bisher überhaupt nicht von ihm kannte. Sie schob es zunächst einmal auf eine schlechte Tagesstimmung, beobachtete ihn nun jedoch sehr genau. So erkannte sie denn auch bald, dass irgendetwas auf ihm zu lasten schien, von dem er offenbar nicht wollte, dass sie es bemerkte.
Ein ungutes Gefühl keimte in ihr auf. Einen Abend später, als sie gerade im Halbdunkel auf dem kleinen Balkon standen, der zu seinem Schlafzimmer gehörte und auf die von Laternen beleuchtete Stadt hinabsahen, fasste sie sich ein Herz und sprach ihn direkt darauf an. Warum Zeit verschwenden? „Es ist nicht zu übersehen, dass dir etwas nahe geht und dir irgend welchen Kummer bereitet. Zumindest bemerke ICH es, auch wenn du es offenbar vor mir zu verstecken versuchst.“ Sie wandte sich ihm zu, fasste sanft seine Hände und sah ihm fragend in die Augen.
Fiondil zögerte zunächst, murmelte dann aber niedergeschlagen: „Es… ist wegen meiner Eltern. Sie haben mir sehr deutlich gemacht, dass sie von unserer Verbindung nicht begeistert sind. Zwar gestehen sie dir zu, dass du eine hübsche und kluge Frau bist, aber das allein reicht ihrer Ansicht nach nicht aus. Sie...“, er suchte nach Worten, „Für sie spielt der Stand und die Herkunft eine entscheidende Rolle. Meine Familie ist von niederem Adel. Abgesehen davon, dass sich mein Vater um die Jagdfalken des Herrn Denethor kümmert und Falken züchtet, abrichtet und verkauft, trägt er außerdem den Titel ‚Aufseher der königlichen Ställe‘. Auch, wenn wir in Gondor, wie du ja weißt, seit Jahrhunderten keinen König mehr haben. Hinter den Titeln stehen uralte Traditionen und die werden in meinem Volk stolz hochgehalten. Mein Vater steht damit etwa auf der Stufe eines Ritters und meine Mutter stammt aus einem Freiherren-Geschlecht in Belfalas drunten.“

Evenila spürte, wie ihr plötzlich kalt wurde und sich ihr Inneres zusammenzuziehen schien.
Fiondil fuhr mit stockender Stimme fort: „Hinzu kommt, dass meine Eltern beide sehr…konservative Ansichten vertreten. Daher hatten sie dir auch das Gästezimmer zugewiesen. Für sie ist es sehr unanständig, wenn Unverheiratete das Bett miteinander teilen – Verlobung hin oder her. Das… das haben sie mir gestern Morgen ziemlich wortreich vorgeworfen.“ Er grinste schief. „Ich hab´ihnen dann ins Gesicht geantwortet, das da ohnehin keine Medaille mehr zu gewinnen sei, weil wir das auf dem Weg hierher bereits getan hätten. Also, das Bett geteilt, meine ich!“ „Das hast du ihnen so gesagt?“ vergewisserte sich Evenila erschrocken.
Fiondil nickte knapp. „Ja! Sie haben mich seit frühester Kindheit zur Ehrlichkeit erzogen und darauf bestanden, dass ich immer die Wahrheit sage. Dann müssen sie es jetzt auch aushalten können, wenn sie Dinge zu hören bekommen, die sie nicht so gut finden!“ Bei den letzten Worten hatte seine Stimme einen nachdrücklichen Ton angenommen. Er schob seine Finger zwischen die ihren. Evenila blickte mit angespannter Miene auf ihrer beider Hände, ohne diese jedoch wirklich wahrzunehmen, und versuchte sich zu vergegenwärtigen, was dies nun künftig für sie bedeuten sollte.

Sie hätte gern Zorn entwickelt, stattdessen fühlte sich jedoch einfach nur elend und fehl am Platz. „Geduldet!“ dachte sie bei sich, „Das ist es wohl, was mich gerade betrifft. Sie wollen nicht, dass ihr Sohn eine Besitz- und Familienlose ins Haus holt, noch dazu ohne einzigen Tropfen blaues Blut in den Adern!“ Fiondil hob eine Hand und strich ihr mit den Fingerspitzen zärtlich durchs Haar. „Versteh´mich nicht falsch“, sagte er, „Ich liebe meine Eltern und das letzte, was ich möchte, ist, sie vor den Kopf zu stoßen. Aber mit IHNEN werde ich nicht den Rest meines Lebens verbringen! Ich habe ihnen gesagt, dass du die Frau bist, mit der ich zusammen sein will und dass mir das mehr bedeutet, als alles Geld oder irgendwelche großartigen Titel und Beinahmen.“
„Das ist leicht dahergesagt“, ätzte eine gehässige Stimme in Evenilas Innerem, „Er kennt ja bisher kein anderes Leben als dieses gutsituierte hier, in dem alles vorhanden ist, was man sich gemeinhin so wünschen kann!“ Rasch verbannte sie diese Gedanken aus ihrem Kopf und schämte sich dafür. Fiondil sagte leise: „Bitte, lass uns jetzt nicht weiter darüber reden, ja? Dazu ist dieser laue Abend viel zu schön.“ Er beugte sich hinunter und begann, sachte ihren Hals zu küssen. Als sie daraufhin die Augen schloss und den Kopf in den Nacken legte, damit er die gewünschten Stellen besser erreichen konnte, hob er sie behutsam auf und trug sie ins Schlafzimmer, zum Bett hinüber.

Am nächsten Tag war das Thema nicht noch einmal zur Sprache gekommen. Weitere Tage vergingen und Evenila wusste nicht, ob Vëantur und Ailinn ihren Sohn noch weiterhin mit Vorwürfen behelligten. Zumindest sprach er nicht mehr davon, ließ sich auch nichts anmerken und sie brachte es irgendwie nicht über sich, ihn danach zu fragen. Was seinen künftigen Werdegang anbelangte, so hatte Fiondil vor kurzem beschlossen, sich erst einmal nach einer Anstellung umzutun und das Studium für den Rang des Höheren Meisters erst einmal hintenan zu stellen. In zwei-drei Jahren wollte er sich dann dafür einschreiben. Er hatte Briefe an verschiedene Beamte und andere Mitglieder des Hofes gesendet sowie auch an Adelige und Vögte außerhalb von Minas Tirith.
Schließlich war eine eine Antwort eingetroffen und Fiondil hatte mit dem Schreiben voller Freude unter Evenilas Nase herumgewedelt. „Ich habe eine Zusage erhalten!“ strahlte er, „Aus Nimlond! Das ist ein kleiner Ort am Kap von Belfalas, direkt an der Küste. Dort lebt eine Tante von mir und sie hat mich dem Verwalter des Grafen empfohlen, dem das entsprechende Lehen gehört. Ich kann dort als Berater anfangen! Meine Tante schreibt mir hier außerdem…,“ er deutete auf ein paar Zeilen, „…Dass wir erst einmal in ihrem Haus unterkommen können! Sie hätte im Hintergebäude genug Platz, seit ihre beiden Töchter ausgezogen sind.“
Evenila hatte sich aus vollem Herzen mit ihm gefreut und war überglücklich gewesen. Außerdem fühlte sie eine beinahe grenzenlose Erleichterung, denn das bedeutete, dass sie dieses Haus verlassen konnte, in dem ihre Anwesenheit nicht willkommen war. Und sie würde das Meer sehen!
Schon zwei Tage später packten sie alles zusammen, was ihnen wichtig erschien und versahen sich mit Proviant für den zweiwöchigen Ritt. Größere und sperrigere Besitztümer würden später mit einem Karren nachgeliefert werden. Er verabschiedete sich von seinen Eltern, die ihm viel Glück und Erfolg für seinen künftigen Dienst wünschten und darum baten, ihnen möglichst eingehend zu berichten. Evenila hatte ihnen gegenüber alle Höflichkeit aufgeboten, zu der sie fähig war, obwohl sie ihnen am liebsten Zum Abschied einen Vogel gezeigt hätte.

Nimlond entpuppte sich als eine bezaubernde Ortschaft mit gepflegten Gärten und von zahlreichen Granatapfel- und Orangenhainen umgeben. Überall wuchsen Oleandersträucher und wilder Hibiskus. Die Häuser waren alle aus Holz gebaut und in leuchtenden Blautönen gestrichen. Nur die örtliche Garnison der Küstenwächter, die im Osten an den Hafen des Dorfes angrenzte und auf einer weit ins Meer hineinragenden Felszunge stand, war aus Stein errichtet. Sie bestand aus einem flachen Kasernengebäude, dass Unterkunft für einundzwanzig Soldaten war, Pferdeställen und einer vier Meter hohen Ringmauer aus weißen Natursteinen. Zum Meer hin ragte ein zehn Meter hoher Turm empor, auf dessen Plattform Holz für ein Signalfeuer gestapelt war. Der Kai und die Stege des kleinen Hafens von Nimlond bestanden aus dem gleichen weißen Stein wie die Befestigungsanlage. Evenila war bereits völlig entzückt gewesen, als sie während der Anreise von einem entfernten Hügel herab einen Blick auf das Dorf hatte werfen können. Ein kräftiger Wind trug salzige Luft vom Meer mit sich und man konnte schon bald das laute Geschrei der Möwen vernehmen, die über der Hafenanlage kreisten. Und dahinter – dunkelblau, in der Sonne glitzernd und unendlich – das Meer!

Fiondils Tante gehörte ein repräsentables, zweistöckiges Gebäude, wie alle anderen aus blau angestrichenem Holz. Fensterrahmen und –läden waren in Weiß gehalten. Rosen in verschiedenen Farben von Weiß über Gelb bis zu dunklem Weinrot blühten im Vorgarten, der von einem niedrigen Bretterzaun zur Straße hin abgegrenzt wurde. Geschnitzte Blumenranken zierten den Türstock.
Ivriloth, Fiondils Tante, riss freudig die Haustür auf, sowie Evenila und Fiondil vor dem Haus die Pferde angehalten hatten, was darauf schließen ließ, dass sie nahe des Fensters gelauert haben musste. Sie war eine kleine, etwas dickliche Frau mit weißem Haar und leuchtend himmelblauen Augen, die von einem Netz aus Lachfältchen umgeben waren. Ihre Gesichtszüge ließen vermuten, dass sie in jüngeren Jahren eine große Schönheit gewesen sein musste. Evenila hatte Ivriloth vom ersten Moment an gemocht und dies hatte auf Gegenseitigkeit beruht. Fiondils Tante schien in jeder Hinsicht das Gegenteil ihrer jüngeren Schwester Ailinn zu sein.
„Willkommen, mein lieber Junge! Meine Güte, bist du aber gewachsen! Deine Tante hat dich ja SO lange nicht gesehen… ein richtig stattlicher, hübscher Bursche bist du geworden, ja Potztausend!“ hatte es Fiondil entgegengeschallt, woraufhin er etwas peinlich berührt gegrinst und Evenila einen entschuldigenden Blick zugeworfen hatte. Diese musste sich mühsam ein Lachen verkneifen. Im Haus hatte Ivriloth ihnen das Personal vorgestellt – einen etwas verschroben wirkenden, ältlichen Hausdiener, ein Zimmermädchen und einen Gärtner. Das Kochen erledigte Ivriloth selbst, da es ihre große Leidenschaft war. Das Rückgebäude enthielt eine separate kleine Wohnung, in der zuvor Ivriloths Töchter gelebt hatten und die noch fast vollständig möbliert war.

Wenige Tage später trat Fiondil seinen Dienst beim Vogt der Ortschaft an, der seinen Amtssitz mit in der Kaserne hatte. Evenila lernte weiterhin fleißig, merkte aber bald, dass es ihr zunehmend schwerer fiel, dies sechs bis acht Stunden am Tag konzentriert durchzuhalten. Sie brauchte dringend etwas zum Ausgleich.
Hier kam jedoch schon bald darauf der Zufall zu Hilfe. Evenila war gerade auf dem Richtung Küche gewesen, um sich nach einer Kleinigkeit zu Essen umzusehen, als sie aus dem Garten Lautenspiel vernahm. Sie spitzte die Ohren, verwarf ihren ursprünglichen Plan und folgte stattdessen den Klängen nach draußen. Dort fand sie Ivriloth mit einer Laute auf einer Gartenbank sitzend, völlig in die Musik vertieft. Evenila lauschte andächtig, bis das Lied zu Ende war und setzte sich dann zu der alten Dame auf die Bank. „Du spielst wundervoll“, hatte sie geseufzt, „Ich wünschte, ich könnte das auch. Wobei... vielleicht würdest du…“, sie hob den Zeigefinger, blitzartig war ihr eine Idee gekommen. „Ich besitze eine Laute, die mir mein Vater… nun, sozusagen vererbt hat. Zu meinem großen Leidwesen kann ich aber nicht darauf spielen. Würdest du es mir vielleicht beibringen?“ Ivriloth lächelte gutmütig. „Aber ja, Kind! Warum denn nicht? Dann habe ich auch regelmäßig etwas Unterhaltung und Ansprache. Bring´die Laute nur her, dann stimmen wir sie und sehen zu, dass du bald ein paar einfache Lieder zusammenbekommst.“ Evenila war sofort freudestrahlend aufgesprungen und hatte das Instrument herbeigeholt. Ab da wurde im Garten täglich Musikunterricht abgehalten.

Es hätte so weitergehen können, wenn Evenila es sich hätte aussuchen können. Dann jedoch erinnerte sich die Göttin des Unheils – sofern es eine solche gab - offenbar an sie und beschloss, wieder einmal vorbeizuschauen.

Evenila war weit vor Sonnenaufgang wach geworden, da laute Geräusche von draußen allmählich durch ihren Schlummer hindurch gedrungen waren. Es dauerte eine Weile, bis ihr schlaftrunkener Geist verarbeitete, wovon sie eigentlich geweckt worden war. Dann hörte sie es. Draußen erklangen laute und hektische Rufe. Auch Befehle wurden gebrüllt, die wohl den Soldaten galten und ein Pferd jagte in vollem Galopp die Straße vor dem Haus hinunter. Das laute Geklapper der Hufeisen entfernte sich schnell und verklang in der Ferne. Evenila stand leise auf und spähte aus dem Fenster. Fast das gesamte Dorf war auf den Beinen und die Menschen rannten durcheinander, schleppten Holzbalken und Bretter oder beluden Karren mit Habseligkeiten. Entlang der Strandlinie, die sich hell gegen das Dunkel des Meeres abzeichnete, loderten Wachfeuer. Es hätte kaum offensichtlicher sein können, dass irgendetwas ganz und gar nicht Ordnung war. Erschrocken eilte sie zum Bett zurück, packte Fiondil an der Schulter und schüttelte ihn. „Schnell, steh auf, draußen muss irgendetwas passiert sein!“ Er blinzelte zunächst orientierungslos, war dann aber nur einen Moment später schlagartig hellwach. „Was … was sagst du da?“ „Frag´nicht lang, schau einfach aus dem Fenster! Ich habe keine Ahnung, was da vor sich geht aber ich glaube, wir sollten uns schnellstmöglich anziehen“ forderte sie ihn auf und stellte ironisch fest:„ Wie die fröhlichen Vorbereitungen zu einem plötzlichen Fest sieht mir das auf jeden Fall nicht aus! “ Hastig schlüpfte sie in Hose und Stiefel und zog eine langärmelige Tunika sowie ein enggeschnittenes Lederwams an. Sie wollte schon das Zimmer verlassen, als ihr Blick auf eine Kommode fiel, wo ihr Gürtel mit dem Dolch lag. Schnell griff sie danach, schnallte sich die Waffe um und stürmte ins Vorderhaus.

Dort rannte sie fast in Ivriloth hinein, die alte Dame wirkte völlig aufgelöst. „Was, zum Henker, ist da draußen los?" rief Evenila. Ivriloth rang die Hände und antwortete: "Bei den Herren des Westens, wie gut, dass ihr wach seid! Ich wollte soeben gehen, um euch aufzuwecken! Ein Fischer hat heute Nacht weit draußen auf dem Meer fremde Schiffe gesehen, mit schwarzen Segeln! Der Hauptmann der Garnison hat seine Worte zunächst angezweifelt, aber der Mann schwört bei allem, was ihm heilig ist, das sie wirklich da waren. Zwar hätte er sie im Mondlich nicht richtig deutlich erkennen können aber glaubt, dass es wenigstens sechs waren. Und sie schienen Kurs in Richtung Küste zu halten!"
Während sie erzählte, wurde Evenila zunehmend von Furcht gepackt. Sie wusste, dass schwarze Segel nur eines bedeuten konnten - Korsaren! "Oh, Himmel! Bitte hilf! Gib, dass sie vorbeisegeln!" flehte sie innerlich.



--Fortsetzung folgt
"Das Leben ist ein dorniger Rosenstock und das Glück die Blüte."

"So, könnt ihr alle noch schnaufen? Ich will ja nicht schuld sein,
wenn jemand während des Tanzens erstickt!"

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Re: Evenila - die Geschichte eines bewegten Lebens oder auch "Man weiß nie, was hinter der nächsten Ecke wartet!"

Ungelesener Beitragvon Evenila » Montag 16. September 2019, 23:41

Fortsetzung


Schwarze Segel und Feuersglut

Evenila trat vor die Haustür. Noch war es unklar, ob die Korsarenschiffe tatsächlich auf Nimlond zusteuerten, aber man bereitete sicherheitshalber alles für die Verteidigung und für die Flucht eines Großteils der Einwohner vor. Wenn Nimlond nicht das Ziel war, dann würden die Korsaren sicher über die umliegenden Dörfer oder die nächste Stadt  herfallen. Durfte man sich wünschen, selbst verschont zu bleiben in der Gewissheit, dass es dann stattdessen den Nachbarn traf? Ihre Überlegungen wurden abrupt beendet, als Fiondil neben ihr auftauchte und ihre Hand fasste. „Komm, wir müssen Vorbereitungen treffen“.

Evenila sah ihn an, die Angst stand ihr ins Gesicht geschrieben. „Fiondil, warum jetzt? Warum wir? Ich meine, es wurden seit fast vierzig Jahre keine von ihnen mehr gesehen, seitdem Thorongil ihre Flotte verbrannte!“ Fiondil schwieg eine Weile, dann antwortete er zögernd: „Es würde zu dem passen, was mir Pelendur vor ein paar Monaten einmal erzählt hat. Kundschafter vermelden seit einiger Zeit verstärkte feindliche Sichtungen und Aktivitäten an allen Grenzen Gondors. Zufall? Kaum. Mit scheint es eher, als wenn der Schatten im Osten sich regte und unsere Wachsamkeit auf die Probe stellte. Nun, ich weiß es nicht – aber es scheint sich in ein Gesamtbild zu fügen.“ Der Klang seiner Stimme verriet, dass er ebenfalls Angst hatte. Sie gingen nach drinnen und berieten, was zu tun sei.
Ivriloth verkündete, dass sie ihr Haus auf gar keinen Fall verlassen würde, um landeinwärts zu flüchten. „Ich werde nicht gehen! Ich habe fast mein gesamtes Leben hier verbracht“ konstatierte sie. „Wenn ich heute sterbe, dann hält Mandos meine Zeit eben für gekommen. Ich bin alt und hatte ein wundervolles Leben, ich fürchte den Tod nicht!“ Alles Überreden half nichts und die Dienstboten äußerten, ebenfalls bei ihrer Herrin bleiben zu wollen. Zuletzt verkündete Evenila, dass sie auch bis zum letztmöglichen Zeitpunkt ausharren wollte. Für den Notfall standen Hwītmanu und Fiondils Pferd bereits fertig aufgezäumt im Stall.
Fiondil holte Steppwams und Kettenhemd, die seinem verstorbenen Onkel gehört hatten, aus der Abstellkammer und ein Langschwert vom Kaminsims herunter. Er prüfte die Klinge, sie war in tadellosem Zustand. Evenila protestierte entschieden: „Ich weiß, dass alle Adeligen Gondors in ihren Jugendjahren Fechtunterricht erhalten und lernen, den Langbogen zu handhaben. Aber es ist ein himmelweiter Unterschied, ob du in der Jugend den Umgang mit einer Klinge gelernt und in den folgenden Jahren dann noch hin und wieder ein wenig geübt hast oder ob du ein erfahrener und abgebrühter Krieger bist! Noch dazu werden die Korsaren – so sie denn tatsächlich Nimlond überfallen – ohne jegliche Ehre oder Skrupel kämpfen!“

„Mondblume, sag mir, was soll ich sonst tun ?“ entgegnete Fiondil. „Wenn der Angriff kommt, dann müssen alle zum Schwert greifen, die dazu in der Lage sind! Wer außer mir soll denn das Haus verteidigen?“ Darauf hatte sie keine Antwort gewusst.
Der Morgen brach an, das goldene Licht der ersten Sonnenstrahlen verdrängte die Dunkelheit und mit ihr alle Zweifel. Denn am Horizont waren nun sehr deutlich zehn große schwarze Segel zu sehen, die auf die Küste zuhielten. Evenila beobachtete es von einem der Fenster im ersten Stock aus und ihr Herz verkrampfte sich. Da jedoch – war es Glück? - teilte sich die Flotte auf. Fünf Schiffe steuerten auf Nimlond zu, die anderen fuhren Richtung Westen, weiter die Küste hinunter.

Am Hafen und dem Strand herrschte immer noch rege Betriebsamkeit. Man zurrte seit Stunden dicke Holzpfähle mit Seilen zu Dreibeinen zusammen und legte Balken quer darüber, die ebenfalls festgebunden wurden, um in der Kürze der Zeit einfache Verschanzungen zu errichten. In der Kaserne wurden immer die nötigen Materialen vorgehalten. Gräben waren bei dem teils felsigen, teils sandigen Boden nur schwer möglich.An einigen Stellen lehnten die Soldaten große Setztartschen* gegen die Querbalken und befestigten sie dort mit eisernen Haken, um ihren Bogenschützen Deckung gegen feindlichen Beschuss zu verschaffen. Dutzende von gefüllten Pfeilköchern wurden dahinter gestapelt. Die Bevölkerung Nimlonds zählte um die 300 Einwohner, wovon etwa zwei Drittel Frauen und Kindern waren, die man auf Karren, Maultiere und Pferde gesetzt und ins Hinterland geschickt hatte, damit sie dort in der nächsten, gut eine Stunde entfernten Ortschaft Schutz suchten. Auch die wertvollen Besitztümer waren sicherheitshalber mit fortgeschafft worden.
Einige Frauen waren jedoch geblieben, um die Kämpfer zu unterstützen. Von den Männern meldeten sich fünfunddreißig zur Verteidigung, der Rest war entweder zu alt oder vermochte nicht effektiv genug, eine Waffe zu führen. Die Freiwilligen brachten eigene Bewaffnung mit – Bögen, Schwerter oder Spieße – und verfügten zum Teil auch über eigene Rüstungen wie Gambesons, gehärtete Lederharnische, einzelne besaßen sogar ein Kettenhemd. Weitere Rüstungsteile wurden aus der Waffenkammer der Kaserne herbeigebracht.

Als die Korsaren die Beiboote zu Wasser ließen, standen die Verteidiger bereit. Fiondil war im Haus geblieben, da er überzeugt war, dass Marodeure bereits während der Schlacht damit beginnen würden, die Häuser zu durchsuchen. Zwanzig schwarze Boote, voll besetzt mit Kämpfern in schwarzen Rüstungen, hielten auf den Strand zu.

Als die Boote in Bogenreichweite kamen, schossen die Verteidiger Salve um Salve ab. Die meisten Pfeile wurden jedoch abgewehrt, da die Korsaren feste, lederbespannte Holzschilde nach oben hielten. Noch etwa dreißig Schritt bis zur Anlandung. Nun eröffneten die Angreifer ihrerseits das Feuer auf die Verteidiger und schossen mit Armbrüsten gezielt durch die Lücken ihrer Deckung hindurch. Etwa zwei Handvoll Verteidiger fielen oder wurden verletzt, von der Wucht der Armbrustbolzen regelrecht von den Füßen gerissen. Da fuhren die Boote auch schon knirschend auf den Sand auf, die Korsaren sprangen heraus und der eigentliche Kampf begann. In dem nun entstehenden Gemenge vermochte Evenila nichts Genaues mehr zu erkennen. Angestrengt spähte sie hinaus, als von unten Schläge gegen die Haustüre erklangen. Sie zuckte erschrocken zusammen. Das Geräusch splitternden Holzes war zu hören, dann Stille und kurz darauf erst ein, dann ein zweiter keuchender Schmerzenslaut. „Das war nicht Fiondils Stimme! Oh, Himmel, es war nicht Fiondil!“ hauchte sie zutiefst erleichtert. Kurz darauf hörte man das Quietschen der Türangeln und Schritte entfernten sich.
Unsicher lauschte Evenila nach unten – wieder Stille! Nur der Kampflärm vom Strand, der nun durch die offene Tür wesentlich deutlicher zu hören war. Mehre Minuten verstrichen. Dann schlich sie, ihren Dolch ziehend, langsam die Treppe hinunter.
Die Haustür war zur Hälfte entzwei geschlagen und stand offen. Zwei tote Krieger in leichten, schwarz gefärbten Rüstungen aus Lederschuppen lagen auf der Schwelle und Blutlachen breiteten sich unter ihnen auf dem Fußboden aus. Sie trugen keine Helme, nur eine Art schmuddelig aussehende schwarze Turbane, ihr schwarzes Haar war zu vielen kleinen, mit Goldperlen geschmückten Zöpfen geflochten, die Gesichter mit gezackten Linien tätowiert.
Evenila schauderte, ein Würgreiz überkam sie. Rasch wandte sie sich ab und spähte zur Türöffnung hinaus, um sich einen besseren Überblick über die derzeitige Lage zu verschaffen. Es war deutlich zu erkennen, dass die Korsaren mit weit weniger Widerstand gerechnet hatten und von der Hartnäckigkeit überrascht waren, mit der Soldaten und Zivilisten ihre Heimat verteidigten.

Die Angreifer wurden Stück für Stück zurückgedrängt, bemüht, dabei eine geschlossene Formation aufrecht zu erhalten. Soweit Evenila sehen konnte, geriet ihre Reihe am westlichen Ende ins Wanken und stand kurz davor, unter dem entschlossenen Angriff der Gondorer zusammenzubrechen. Sie fasste Mut, zwang sich, über die Leichen hinwegzusteigen und schlich geduckt bis zur Ecke des gegenüberliegenden Hauses. Dabei gewahrte sie, wie gerade ein weiteres, einzelnes Ruderboot am Strand anlandete, in dem nur drei Personen zu erkennen waren. Höchst eigenartig! Suchend blickte sie sich nach Fiondil um und entdeckte ihn unweit des Gartenzauns, schwer atmend, auf das blutige Schwert gestützt. Ein Stück entfernt lag ein weiterer Angreifer mit dem Gesicht nach unten tot auf der Erde.
Evenila ging in die Hocke und spähte vorsichtig um die Hausecke.

Da geschah es!
Mit einem Mal bemerkte sie eine subtile Veränderung in der Umgebung, alle Farben wirkten irgendwie fahl und grau und… sie hatte es nicht gleich wahrgenommen… da war eine Art Summen oder Vibrieren in der Luft. Plötzlich wurde es mit einem Schlag sehr kalt, fast so kalt wie in einem Winter in Thal. Gleichzeitig hatte sie einen metallischen Geschmack auf der Zunge, wie von Eisen. Oh, Himmel!
Sie wusste nur zu genau, was diese Anzeichen bedeuteten - Meister Calandur hatte es in seinem Unterricht oft genug beschrieben. Jemand aus den Reihen des Feindes musste einen oder mehrere bösartige Geister aus der Finsternis herbei beschworen haben. Übelkeit und Schwindel überkamen sie und sie kämpfte dagegen an, sich wahlweise zu übergeben oder ohnmächtig zu werden. Kaltes Grauen umklammerte ihr Herz.
Sie sank auf die Knie, vornübergebeugt und hustend. „A Elbereth! A Gilthóniel!“ keuchte sie verzweifelt, mit geschlossenen Augen. Tatsächlich ließen die Übelkeit und die Angst wenige Augenblicke später nach, so dass sie wieder klar sehen und denken konnte. Eine Bewegung zu ihrer Rechten veranlasste sie, sich umzudrehen und sie sah, wie Fiondil, der etwa zwanzig Schritt entfernt stand, auch schwankte, taumelte und dann zusammenbrach. Er griff sich mit beiden Händen an den Hals, konnte offenbar kaum noch atmen.

Evenila stemmte sich hoch, wollte ihm zu Hilfe eilen, erstarrte jedoch unvermittelt. Hinter der Kampfreihe der Korsaren manifestierte sich etwa auf Höhe ihrer Köpfe ein unförmiger Schatten aus absoluter, Licht schluckender Dunkelheit. Er bewegte sich, als wenn er aus sich kräuselndem, fettigen Rauch bestünde und waberte langsam durch die Luft nach vorn, auf die Häuser zu. Während er sich näherte, veränderte er sich und begann, eine Art Gliedmaßen, einen Kopf und schwarze Schwingen auszubilden. Evenila sah fünf Arme, die sich in anatomisch völlig unmöglichen Verrenkungen bewegten und zwei violette Lichtpunkte wie Augen in der Mitte des Kopfes.
Dass die Wesenheit diese tatsächlich benötigte, um ihre Umgebung wahrzunehmen, bezweifelte sie. Sie wusste, dass die Geister der Abgründe völlig körperlos waren und erst durch die Vorstellungen und den Willen des Beschwörers, der sie auf diese Ebene rief, wie durch eine Form in eine bestimmte Gestalt gepresst wurden.
Nun entwickelte die Erscheinung ein gewaltiges Maul, in dem lange, dünne und nadelscharfe Zähne saßen. Je mehr sie sich auf dieser Ebene verfestigte, umso kompakter schien sie zu werden und desto mehr scheußliche Details formten sich.
Die Verteidiger in ihrem Umkreis taumelten, wichen voller Entsetzen zurück, einer krümmte sich auf dem Boden zusammen und wurde erschlagen. Einer der Zivilisten warf mit einem Aufschrei seine Waffen fort, rannte davon, und wurde mit einem Armbrustbolzen in den Rücken zu Fall gebracht. Chaos drohte sich unter den Verteidigern auszubreiten.

Die Wesenheit streckte einen seiner fünf Arme in Fiondils Richtung aus, woraufhin sich dieser auf dem Boden wand und wie ein Erstickender röchelte. Unendlicher Schrecken überkam Evenila. Hektisch sah sie sich um, suchend, entdeckte einen herumliegenden Pfeil nicht weit entfernt, hastete dorthin und hob ihn auf. Gleichzeitig versuchte sie, ihren Geist zu beruhigen. Sie schloss für einen Moment die Augen, dann sprintete sie los und stellte sich in die Linie zwischen Fiondil und den Geist. Ohne zu zögern, begann sie, mit dem Pfeil komplizierte Muster in den Sand zu zeichnen. Dazu intonierte sie die Worte einer Bannformel, erst leise und zögerlich, dann zunehmend lauter und mit fester Stimme. „Man kann so einen Schrecken nur vertreiben, wenn man felsenfest vom Erfolg überzeugt ist“, sagte eine Stimme in ihrem Kopf, „Du musst absolut daran glauben, dass er deinen Worten gehorchen muss, sonst kannst du es gleich bleiben lassen und dich hier zum Sterben hinlegen!“
Der Geist hielt inne. Evenila sprach noch lauter, legte all ihren Willen in die Silben der Formel und streckte die Hand mit dem Pfeil in Richtung der Erscheinung. Zwar war es kein Stab, aber besser als nichts und diente ihr nun dazu, die Kraft der Worte auf einen Punkt zu fokussieren. Der Geist wurde durchsichtiger, verfestigte sich dann wieder und Evenila spürte, wie eine Welle aus Angst, Mutlosigkeit und Verzweiflung gegen ihre Entschlossenheit anbrandete und sie beinahe in die Flucht gezwungen hätte. Gleichzeitig schnürte sich ihr Hals zu, das Sprechen viel zunehmend schwerer. Sie kämpfte mit aller Kraft dagegen an und setzte die Formel Wort für Wort fort, vor Anstrengung und Konzentration traten Schweißperlen auf ihre Stirn. Da ließ der Angriff schlagartig nach. Die Wesenheit verlor wieder an Substanz und löste sich unter schrillen, unirdischen Lauten der Wut auf, als ihre Bindungen an diese Welt zerstört wurden. Von einem Moment auf den nächsten verschwand der Geist und nur ein gräßlicher Gestank nach Fäulnis kündete noch davon, dass er hier gewesen war.

Evenila atmete mühsam, wankte und wollte sich schon neben Fiondil auf den Boden setzen, als sie lautes Wutgeschrei vernahm und - obwohl sie diese degenerierte Form des Westron kaum verstand – vermutlich Flüche. Nach dem Verursacher des Gezeters Ausschau haltend, bemerkte sie am Rand der feindlichen Schlachtreihe einen hochgewachsenen Mann - offenbar der Beschwörer des Geistes. Der Mann war knochendürr, die Haut weiß wie Kalk und er trug einen langen, schwarzen Vollbart, in den große Goldperlen eingeflochten waren. Seine schwarzen Augen funkelten bösartig. Auf dem Kopf trug er einen hohen, seltsamen Hut, der aus schwarzem Leder und Metall gefertigt und mit allerlei pervertierten magischen Symbolen bemalt war. Er hob die Arme, die in einem weiten, schwarzen Gewand steckten und begann einen gutturalen Singsang. Die Luft vor ihm flimmerte, wurde finster und erneut war dieses Vibrieren, die Kälte und der metallische Geschmack spürbar.

„Möge die Finsternis dieses Mörderpack verschlingen! Der Schwarzhexer will einen weiteren Schrecken rufen!“ stellte Evenila in Gedanken entsetzt fest, „Ein weiteres Mal überleben wir nicht! Was soll ich nur tun?“ Sie blickte hastig um sich, auf der Suche nach irgendetwas, womit man den Magier aus dem Konzept bringen konnte. Dann bückte sie sich, griff, ohne auch nur einen Moment darüber nachzudenken, einen faustgroßen Stein vom Boden und schleuderte ihn mit aller Kraft. Der Stein flog, traf den Mann an der Brust und ein schmerzerfüllter Aufschrei entrang sich dessen Kehle. Zwar fasste er sich sogleich wieder, doch es war zu spät! Der Stein hatte ihn in seiner Beschwörung unterbrochen. Dünne, rauchartige Fäden aus Dunkelheit schlängelten sich auf den Schwarzmagier zu und wanden sich um ihn. Mit schriller Stimme kreischte der Mann auf, verdrehte die Augen und griff sich mit beiden Händen an den Kopf. Der dunkle Umriss dehnte sich schlagartig aus und hüllte den Mann vollständig ein, um anschließend urplötzlich und spurlos zu verschwinden. Steif wie ein Brett kippte der Hexer vornüber und rührte sich nicht mehr.

Evenila atmete laut auf. Den Korsaren hingegen schien die Bannung des Geistes und der Tod ihres Schwarzmagiers endgültig die Erkenntnis verschafft haben, dass der Kampf für sie nicht mehr zu gewinnen war. Unter dem unbarmherzigen Nachsetzen der Gondorer schoben sie ihre Boote in die Meereswellen und ruderten um ihr Leben.

Evenila half Fiondil auf die Beine, als dieser mit großer Mühe versuchte, sich aufzurichten und stützte ihn dann, so gut sie es vermochte. Er schwankte stark und wäre zunächst beinahe wieder zu Boden gegangen. Sie sahen den Korsaren nach und konnten ihr Glück kaum fassen, als ein lauter werdendes, prasselndes Pfeifen in der Luft erklang. Beide wandten sich hektisch um, um den Ursprung dieses neuen Geräuschs zu orten, als sie mit Schrecken gewahrten, dass von den Schiffen her etliche loderte Feuerkugeln auf das Dorf zuflogen. Offenbar von einer Art Katapulten abgefeuert, rasten die Geschosse über ihre Köpfe hinweg und schlugen in mehrere Häuser, Scheunen und Ställe ein. Diese brannten sofort lichterloh und Evenila beobachtete mit Entsetzen, wie flüssiges Feuer gleich zähem Honig an der Wand eines Hauses hinunterrann. „Das Feuer der Schiffskönige!“ schrie sie auf. „Bei den Valar! Diese Hunde wollen das Dorf niederbrennen, nachdem der Überfall gescheitert ist!“ Fiondil starrte nur ungläubig. Beide wussten, dass die klebrige brennende Masse, die auf eine Erfindung der alten Númenorer zurückging, mit nichts auf der Welt gelöscht werden konnte. Sie beobachteten, wie weitere Flammenkugeln einschlugen. Dann drehten die schwarzen Schiffe bei und entfernten sich.

Beide rannten los. Wenn der Brand schon nicht zu löschen war, dann galt es wenigstens, den Leuten zu helfen, aus den Häusern noch so viel wie möglich zu retten und zu verhindern, dass das Feuer auf weitere Gebäude übergriff!
Ivriloths Haus blieb zum Glück verschont, aber ein Geschoss hatte den benachbarten Stall in Brand gesetzt. Schrilles und von Todesangst erfülltes Wiehern ertönte aus dem Gebäude. Vor Evenila und Fiondil langten jedoch bereits andere Leute an, die die Türen des Stalls weit aufrissen, um die Pferde hinauszulassen. Mit angelegten Ohren und panischem Blick stürmten die Tiere nach draußen. „Hwītmanu! Hwītmanu!“ schrie Evenila aus vollem Hals, um den allgemeinen Lärm zu übertönten. Das Pony reagierte jedoch nicht, galoppierte kopflos den anderen Pferden nach und verschwand mit diesen zum westlichen Dorfausgang hinaus!
Evenila rief weiterhin verzweifelt den Namen ihres alten Ponys, jedoch ohne Erfolg. Tränen strömten ihre Wangen hinunter. Für einen Moment wollte sie, einem Impuls folgend, den Pferden hinterherrennen, dann jedoch setzte sich die Vernunft durch, dass zunächst den Menschen geholfen werden musste. Fiondil nahm Evenila in die Arme und drückte, nein, presste sie regelrecht an sich, was seine eigene Aufgewühltheit erkennen ließ. Dann schlossen sie sich den allgemeinen Rettungsbemühungen an.

Als der Sonnenuntergang einsetzte, war die Hälfte des Dorfes völlig niedergebrannt und nur noch schwarze, rauchende Trümmer vorhanden, in denen die Flammen allmählich erstarben. Jedoch war es wenigstens gelungen, eine Ausbreitung des Feuers auf weitere Häuser zu verhindern.
Evenila und Fiondil sahen aus, als wenn sie beide einem Kohlemeiler entstiegen wären, alles an ihnen war rußgeschwärzt, die Kleidung und das Haar angesengt. Zu Tode erschöpft stolperten sie zum Strand, um sich Ruß und Asche grob abzuspülen und suchten anschließend das Haus der Tante auf. Von Hwītmanu war weiterhin nichts zu sehen und zu hören, was Evenila in tiefe Besorgnis stürzte.
Ivriloth stand wartend in der Haustür, totenbleich, aber äußerlich gefasst. Die beiden toten Korsaren waren vermutlich von den Dienern weggeschafft worden. „Kommt herein, nehmt ein heißes Bad und zieht euch um“, befahl sie, „Ich habe hier bereits Wasser erhitzt und werde anschließend einen großen Kessel Suppe kochen. Für uns drei und für die gesamte Nachbarschaft, damit wir alle etwas zu Essen in den Magen bekommen!“ Sie bemühte sich, möglichst ruhig zu sprechen und ein Mindestmaß an Normalität wieder herzustellen.
Evenila und Fiondil schlossen Ivriloth nacheinander in die Arme, dankbar, dass sie unversehrt war und wankten nach drinnen, um den Anordnungen der alten Dame nachzukommen.

Die Nacht brach herein und breitete den gnädigen Schleier der Dunkelheit über den Anblick des halb zerstörten Dorfes und die aufgebahrten Toten aus. Überall erklang Weinen und Wehklagen. Der Hauptmann der Garnison hatte Hilfsgüter für die obdachlos gewordenen Einwohner aus den Lagerbeständen herbeischaffen lassen und Ivriloth verteilte vor ihrem Haus heiße Suppe an all ihre Nachbarn und auch andere Nimlonder. Einem alten Ehepaar hatte Ivriloth Unterkunft im Gästezimmer angeboten, damit sie nicht draußen unter freiem Himmel schlafen mussten.

Nach dem Essen schlief Evenila ein, während sie noch am Tisch saß und Fiondil trug sie vorsichtig zum Bett und deckte sie zu. Der Schlaf hatte sie jedoch so fest im Griff, dass sie absolut nichts davon merkte.



--Fortstetzung folgt

( *Setztartsche : https://de.wikipedia.org/wiki/Setzschild )
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Re: Evenila - die Geschichte eines bewegten Lebens oder auch "Man weiß nie, was hinter der nächsten Ecke wartet!"

Ungelesener Beitragvon Evenila » Samstag 21. September 2019, 17:49

Fortsetzung


Eine Suche, eine unheimliche Entdeckung und eine ungewisse Zukunft

Am nächsten Tag war Evenila erst nach Mittag wach geworden. Sie ließ sich ziemlich unelegant mehr oder weniger aus dem Bett plumpsen, richtete sich mühsam auf und stellte fest, dass sie jeden einzelnen Muskel in ihrem Körper fühlen konnte. Alle davon schmerzten.Langsam und vorsichtig streckte sie sich, fluchte leise und zog sich dann mit etwas ungelenken Bewegungen an. Währenddessen kehrten auch allmählich alle Bilder und Erinnerungen an den gestrigen Tag in ihr Gedächtnis zurück. Die schwarzen Schiffe und die Korsaren. Die Erscheinung aus den Abgründen. Der Beschuss des Dorfes mit unlöschbarem Feuer und die brennenden Häuser. Hwītmanu! Ihr Magen zog sich zusammen.
Seitdem das Pony am Vormittag zuvor in heilloser Panik aus dem Dorf galoppiert war, hatte es bis zum Einbruch der Nacht niemand mehr gesehen.

Vorsichtig stakste Evenila mit steifen Bewegungen die Treppe hinunter und verfluchte ein weiteres Mal ihre schmerzenden Muskeln. Unten in der Wohnstube traf sie Fiondil und seine Tante Ivriloth an, die gerade noch beim Mittagessen saßen. Ein etwas vorwurfsvolles Gesicht ziehend fragte Evenila: „Warum habt ihr mich denn nicht aufgeweckt? Der halbe Tag ist ja schon vorbei!“ Fiondil erhob sich vom Esstisch, küsste sie auf die Wange und erklärte entschuldigend: „Du hast geschlafen wie ein Backstein, ich habe es einfach nicht über´s Herz gebracht, dich zu wecken. Du hast wohl die Erholung gebraucht… nach...nach all dem, was gestern geschehen ist!“ Seine Miene verdüsterte sich bei diesen Worten. "Wie geht es dir?" Sie zuckte mit den Schultern. "Den Umständen entsprechend schlecht, würde ich sagen." Dann fragte sie vorsichtig: "Ist... ist Hwītmanu vielleicht zurückgekommen?“. Ihr Geliebter zögerte für einen Moment und schüttelte dann traurig den Kopf. „Nein, sie ist bisher nicht zurückgekommen“, sagte er leise und in mitfühlendem Ton. „Es tut mir leid! Ich wünschte, ich hätte bessere Neuigkeiten für dich.“
Große Sorge um das Pony und Kummer sprachen aus Evenilas Blick. „Fiondil, wir müssen sofort losgehen und sie suchen! Womöglich ist ihr etwas passiert.“ An dieser Stelle schaltete sich Tante Ivriloth in das Gespräch ein. „Kind, also wirklich, nun setz´dich erst einmal hin und iss etwas! Natürlich hast du nun andere Gedanken als Essen im Kopf und wahrscheinlich auch gar keinen Hunger. Aber du musst jetzt erst einmal wenigstens ein paar Löffel zu dir nehmen, damit du nicht mit leerem Magen draußen herumläufst!“ Gehorsam nahm Evenila am Tisch Platz, dort war bereits für sie mit eingedeckt. Es gab gebackene Kartoffeln und verschiedenes Gemüse in einer Kräuter-Sahnesoße. Nach den ersten Bissen merkte sie jedoch rasch, wie ausgehungert sie war und langte ordentlich zu.

Danach machten sich beide sofort auf, um nach dem verschwundenen Pony zu suchen. Ein trostloser Anblick erwartete sie draußen. Wirr übereinander getürmte, schwarz verkohlte Holzbalken waren das Einzige, was von den Häusern in der Nachbarschaft übriggeblieben war. Der Brandgeruch hing immer noch deutlich in der Luft und die leichte Brise, die vom Meer herüberwehte, wirbelte weißgraue Ascheflocken herum. Die aufgebahrten und mit Leintüchern umhüllten Toten befanden sich außerhalb ihres Sichtfeldes in der Nähe der kleinen Befestigung und Evenila war mehr als froh darüber, dass ihr der Anblick momentan erspart blieb. Das Wissen darum, dass dort vorn um die dreißig erschlagene Verteidiger lagen, war schlimm genug.
Plötzlich fiel ihr Blick auf Fiondils Apfelschimmel, der draußen am Gartenzaun angebunden war und leise schnaubte. „Das ist ja… Grauer ist ja wieder da!“ stellte sie voller Überraschung fest. Fiondil hatte seinem Pferd keinen wirklichen Namen gegeben und nannte es nach seiner Farbe einfach nur „Grauer“. Er nickte. „Ja, mit einem Mal stand er da und drückte sich vor dem abgebrannten Stallgebäude herum. Ich habe ihn erst gar nicht bemerkt! Hat keinen Mucks von sich gegeben, wirkte ein wenig so, als ob er sich schämte.“ Evenila tätschelte dem Hengst den Hals, der daraufhin mit den Lippen am Saum ihrer Gugel* zupfte. Der Anblick des Pferdes verlieh ihr Hoffnung.

Sie gingen in westlicher Richtung die Straße hinunter – dorthin waren die Pferde gestern Vormittag davongerannt - und hielten nach rechts und links Ausschau. Immer noch schmerzten Evenilas Muskeln bei jedem Schritt, aber allmählich wurde es etwas besser. Kein Pony weit und breit zu sehen! Sie legten etwa zwei Meilen zurück – jedoch ohne Ergebnis - und kehrten dann noch einmal bis zum Dorf zurück und suchten den Boden am Straßenrand nach Hufabdrücken ab. Zunächst auch dies vergeblich. Dann jedoch gewahrte Evenila eine Stelle, wo in breiter Fährte mehrere Spuren Richtung Norden von der Straße abwichen und im Gelände verschwanden. Mit einem leisen Aufschrei deutete sie darauf. Sofort kam Fiondil herbeigeeilt, betrachtete die Fährten und nickte.
Eilig folgten sie den Spuren, die Teils im Zickzack zwischen Felsbrocken, Hibiskussträuchern und Obstbäumen verliefen und nun allmählich in die nordöstliche Richtung führten. Nach vielleicht zweihundert Schritten blieb Fiondil unvermittelt stehen und hielt Evenila am Arm fest. „Da! Schau, da vorn!“ Er zeigte in die entsprechende Richtung. „Da vorn steht das Pferd meiner Tante und grast seelenruhig, so als ob überhaupt nichts geschehen wäre! Wenn wir nachher zurückgehen, versuche ich, es anzulocken.“ Sie blickte zu dem etwas gedrungen und pummelig wirkenden, dunkelbraunen Wallach hinüber und nahm die Entdeckung mit einem hoffnungsvollen Nicken zur Kenntnis. Vielleicht hielt sich ihr Pony ja dann auch hier irgendwo in der Nähe auf! Mit neuer Zuversicht setzten sie die Suche fort.

Hwītmanu blieb jedoch nach wie vor wie vom Erdboden verschluckt. Schließlich endete die Fährte, weil der Boden zu hart und felsig wurde. Ab da konnten sie nur noch auf gut Glück die Gegend durchforsten. Die Gegend im direkten Umkreis von Nimlond war von sanften Hügeln geprägt und durch die zahlreichen Obsthaine und Gebüsche nicht gut einzusehen. Ein Stück weiter vor ihnen im Nordosten ragte jedoch eine höhere, steiler ansteigende und mit einem Pinienwäldchen bestandene Erhebung auf. Die wollten sie nun hinaufsteigen, da alles andere wenig erfolgversprechend schien. Wenn das Pony sich dort auch nicht befand, dann würde man von dort oben zumindest einen besseren Ausblick haben!
Nach einem paar Minuten Fußmarsch hatten sie den Fuß des Hügels erreicht und stapften zwischen den Bäumen bergauf. Wenn der Anlass ein angenehmerer gewesen wäre, dann hätte Evenila sicher auch ein Auge für die alten Pinien und die an ihren Wurzeln blühenden Blumen und Wildkräuter gehabt. Nun aber nahm sie die Schönheit der Landschaft überhaupt nicht wahr.
Sie näherten sich dem Kamm. Dort lichteten sich die Bäume und auf der anderen Seite des Hügels schien der Boden plötzlich einfach aufzuhören. Evenila und Fiondil hielten darauf zu und stellten fest, dass der Hügel zur gegenüberliegenden Seite hin eine hohe, steile Abbruchkante aufwies. Fiondil schirmte die Augen mit der Hand gegen die Sonne ab und ließ den Blick über die Landschaft schweifen, als Evenila plötzlich vor Entsetzen aufschrie.
Ohne eine Erklärung sprang und stolperte sie hastig, so schnell es der bröckelige Untergrund erlaubte, an einer etwas leichter begehbaren Stelle die Felsenklippe hinunter. Fiondil schaute zunächst überrascht dein. Dann jedoch schöpfte er einen Verdacht und das Herz wurde ihm schwer.

Rasch beeilte er sich, Evenila zu folgen und fand sie einige Minuten später unten auf der Ebene wie versteinert dastehen. Vor ihr auf dem Boden lag – Hwītmanu. Sie war tot. Evenila hob den Kopf und sah langsam, wie in Zeitlupe, zur Abbruchkante hinauf. Offenbar war das Pony in seiner blinden Todesangst einfach über Stock und Stein dahingestürmt, war dann die Felsen hinabgestürzt und hatte sich dabei das Genick gebrochen.
Schweigend stand sie ungläubig ein paar Minuten vor dem Kadaver des Tieres, dann brach sie in Tränen aus. Fiondil nahm sie in die Arme und fühlte sich sehr hilflos. Er suchte nach Worten, hätte gern irgendetwas Tröstendes gesagt, aber ihm wollte absolut nichts einfallen. Also schwieg er und beschränkte sich darauf, Evenila einfach nur festzuhalten und ihr beruhigend über den Rücken zu streicheln.
Nach geraumer Zeit löste sie sich von ihm, wischte sich mit beiden Händen die Tränen aus den Augen und stammelte mit zittriger, erstickter Stimme: „Wir… wir können sie da... nicht einfach so liegenlassen! Wir müssen… müssen sie beerdigen!“ Es brach ihm fast das Herz, Evenila so zu sehen. Zutiefst bekümmert sagte er leise und vorsichtig: „Mondblume, das geht nicht so einfach. Der Boden….“, er wies auf den steinigen Untergrund, „ist viel zu hart. Und um so ein großes Loch zu auszuheben bräuchten wir Werkzeug, dass wir nicht haben. Aber selbst wenn… würde es vermutlich ein, zwei Tage dauern!“ Evenila schloss die Augen und hielt sich die Hände vor das Gesicht. Nach einer Weile sagte sie: „Dann stapeln wir wenigstens Steinbrocken darüber und errichten ein Hügelgrab. Das alte Mädchen kann nicht einfach so in der Gegend liegen bleiben!“ Ihre Stimmlage ließ deutlich erkennen, dass sie keinen Widerspruch dulden würde. Also verbrachten sie die folgenden Stunden mit dem Schleppen von Steinen, die sie rund um das tote Pony anhäuften, bis es vollständig damit bedeckt war.
Evenila war dann noch eine ganze Zeit vor dem kleinen Hügel gestanden, mit Tränen in den Augen, bis sie sich irgendwann innerlich einen Ruck geben und sich von dem Anblick losreißen konnte. Die Abenddämmerung setzte bereits ein und färbte den Himmel in kräftigem Orange und Violett.

Während des Rückwegs sprach sie kein einziges Wort. Fiondil gelang es, sich dem Pferd seiner Tante so weit zu nähern, dass er den Strick zu fassen bekam, der vom Halfter herabbaumelte und er führte das etwas widerstrebende Tier mit zum Haus zurück.

Dort angekommen war Tante Ivriloth anhand Evenilas Gesichtsausdruck und der Abwesenheit des Ponys sofort klar gewesen, was passiert sein musste. Sie sagte nichts, streichelte Evenila nur mitfühlend über die Wange und bugsierte sie ins Haus. Dort deutete sie auf die Kaminbank, wartete kurz ab, bis Evenila sich gesetzt hatte und ging dann eine Flasche Aprikosenschnaps aus dem Keller holen. In der Küche füllte sie drei kleine Becher damit, stellte diese auf ein Tablett und kehrte damit, wie auch mit der Flasche, in die Wohnstube zurück. Evenila hatte den Inhalt ihres Bechers ziemlich schnell hinunter gekippt und anschließend einen zweiten fast ebenso schnell hinterher.
Schließlich endete der Abend damit, dass sie und Fiondil die restliche Flasche leerten und dann ziemlich betrunken, ohne noch etwas zu essen, Richtung Bett wankten. Dort brachten sie es gerade noch fertig, sich die Stiefel auszuziehen. Anschließend ließen sie sich auf die Matratze fallen und schliefen, einander in den Armen haltend, sofort ein.

Am darauffolgenden Morgen erwachten beide mit einem Kater, aber dies erschien Evenila nicht weiter erwähnenswert im Vergleich zum Verlust ihres geliebten, treuen Pferdchens und all den anderen Schrecknissen. Mit einer entsprechenden Menge starken Kaffees und ein paar Bechern Wasser dazu ebbten die Kopfschmerzen auch allmählich ab.
Als sie sich beide wieder etwas besser und halbwegs bei klarem Verstand wähnten, bat Fiondil Evenila auf ein wichtiges Gespräch unter vier Augen in ihre Räumlichkeiten im Hinterhaus. Verwundert folgte sie ihm, vermochte sich auf diese Ankündigung keinen Reim zu machen.

Dort angekommen, holte Fiondil tief Luft. „Mondblume, ich hatte noch keine wirkliche Gelegenheit, mich angemessen bei dir zu bedanken. Bitte vergib mir!“ Er sah ihr in die Augen. „Ohne dich... hätte vorgestern dort unten am Strand mein letztes Stündchen geschlagen. Du hast mir das Leben gerettet!“ Evenila sah ihn an, öffnete schon den Mund, um es abzutun. Dann aber wurde ihr klar, dass er vermutlich recht hatte, auch wenn sie am liebsten gar nicht darüber nachdenken wollte. „Nun, so etwas tut man eben für den Mann, den man liebt“, antwortete sie langsam und feierlich, bediente sich dabei absichtlich exakt der Worte, die Fiondil damals in Thal zu ihr gesagt hatte.

Er lächelte sanft, wurde dann aber ernst. „Ich habe in meiner Angst nicht richtig reagiert, der Geist hätte mich getötet“, fuhr er fort. „Er hat seine unirdischen Kräfte eingesetzt, um mir damit über die Distanz hinweg die Luft abzudrücken. Mir war bereits schwarz vor Augen und ich hatte mich in Gedanken schon von der Welt verabschiedet. Wenn du dich nicht dazwischen gestellt und dabei dein eigenes Leben für mich riskiert hättest, dann hätte er mich erwürgt. Ich konnte nichts mehr tun!“
Bei diesen Worten zog er mit der rechten Hand den Stehkragen seines Hemdes und ein Halstuch, dass er trug, ein Stück zur Seite und entblößte seine Haut. Dort an seinem Hals prangten sehr deutlich drei schmale, rotblaue Würgemale, wie von langen Klauen oder langen, sehr dünnen Fingern!
Entsetzt fuhr Evenila zurück und keuchte vor Schreck auf.
Fiondil hob die Hand und kam ihr zuvor, bevor sie etwas fragen konnte. „Mach dir keine Vorwürfe, du konntest es nicht bemerken. Ich habe ja gestern schon den ganzen Tag über dieses Halstuch getragen. Aus gutem Grund. Ich wollte nicht, dass meine Tante diese Verletzungen sieht“. „Verständlich!“ ächzte sie schockiert. Er lächelte schief. „Warum auch immer, diese Male sind erst in der Nacht von vorgestern auf gestern entstanden. Also, in der Nacht nach dem Kampf. Am Abend zuvor waren sie noch nicht da, sonst hätten wir sie beim Baden ja gleich bemerkt“. Obwohl er sich bemühte, sich seine Besorgnis diesbezüglich nicht anmerken zu lassen, konnte er sie vor Evenila nicht verbergen. „Oh, Himmel! Und du rennst einfach so damit herum?! Das muss behandelt werden! stellte sie mit nachdrücklichem Ton fest. “Wir bereiten jetzt sofort eine Heilsalbe zu, die Kräuter dafür wachsen hier im Garten. Nein, keine Widerrede!“
Fiondil nickte und fügte sich. „Du hast ja recht. Was sagen wir meiner Tante?“ Evenila zögerte und dachte nach. Schließlich seufzte sie ergeben. „Falls sie fragt, werde ich ihr erzählen, dass ich bei mir ein paar scheußliche blaue Flecken behandeln möchte. Zwar werde ich mich schlecht dabei fühlen, sie anlügen zu müssen, aber davon...“, sie deutete auf die Würgemale, „darf sie nichts erfahren. Sie ist nicht mehr die Jüngste und hat in den letzten beiden Tagen wahrlich schon genug mitmachen müssen!“
Die beiden suchten den Garten auf, ernteten verschiedene Kräuter, zerkleinerten sie in einem Mörser und sotten sie in Schmalz. Anschließend warteten sie, bis die Paste abgekühlt war und Evenila trug eine großzügige Menge davon auf die betroffenen Stellen an Fiondils Hals auf. Danach wickelte er wieder das Tuch darüber. Den Rest der Salbe füllten sie in einen Tiegel. Glücklicherweise war Ivriloth während der ganzen Zeit über nicht zu sehen und offenbar mit anderen Dingen beschäftigt, so dass Evenila die Lüge erspart blieb.

Ein paar Abende später, als Evenila und Fiondil sich gerade zum Schlafen niederlegten, sagte sie: „Wenn ich´s mir recht überlege, dann sind wir nun quitt. Du hast damals mein Leben gerettet und ich habe nun deines retten können“. Fiondil überlegte und entgegnete dann: „Nein, das wiegt sich nicht annähernd auf. Ich habe dich damals aus einer misslichen Lage befreit, die aber nicht lebensbedrohlich war. Du hingegen hast durch dein tapferes Eingreifen dafür gesorgt, dass ich heute überhaupt noch auf Arda wandele!“ Er küsste sie zärtlich und sagte dann leise: „Jetzt schulde ich dir wieder etwas, wenn wir das schon so rechnen wollen. Aber – bei Atalantë! – ich hoffe inständig, dass wir niemals in eine Lage geraten, in der ich die Gelegenheit haben werde, diese Schuld zu begleichen!“

Eine Woche verging. In Nimlond dauerten die Aufräumarbeiten an, aber allmählich war nun das gesamte verbrannte Holz fortgeschafft. Die gefallenen Soldaten und Einwohner hatte man in dem kleinen Friedhof bestattet, der ein Stück weiter landeinwärts westlich der Ortschaft lag und dessen Fläche dadurch mit einem Mal um ein Beträchtliches angewachsen war. Die toten Korsaren hingegen waren auf einem großen Scheiterhaufen verbrannt worden, die Überreste hatte man in Säcke geschaufelt und weiter draußen im Meer versenkt. Eine höchst unerfreuliche Arbeit, jedoch sollte nichts von den Angreifern übrigbleiben und an sie erinnern. Man plante nun den Wiederaufbau der niedergebrannten Häuser und ging daran, Materialien zu beschaffen.
Fiondil und Evenila hatten den Nachbarn beim Abtragen der verkohlten Balken und Bretter geholfen. Nun gab es erst einmal nichts weiter zu tun und sie saßen am Strand und sahen aufs weite Meer hinaus. Es war ein herrlicher Morgen mit Sonnenschein und kräftigem Wind vom Meer her, die Möwen kreischten und draußen am Horizont sah man die Segel der Fischerboote, die sich auf dem Rückweg zum Hafen befanden. Dort am Kai würden die Fischer gleich nach ihrer Ankunft den Fang der letzten Nacht feilhalten.
An sich wirkte das alles sehr idyllisch – zumindest, solange man sich nicht umdrehte!

„Wir müssen uns nun überlegen, was wir tun wollen, Mondblume.“ begann Fiondil. „Oder besser gesagt, wie sich unsere derzeitigen Möglichkeiten gestalten. Wir können nicht einfach für immer bei meiner Tante bleiben und ihr sozusagen auf der Tasche liegen.“ Sie seufzte und pflichtete ihm mit einem Nicken bei. „Ich weiß. Ich würde so gern hierbleiben, ich habe sie wirklich sehr liebgewonnen. Sie ist ein großartiger Mensch. Aber wir müssen zusehen, dass Geld ins Haus kommt. Ivriloth würde uns zwar ohne groß darüber nachzudenken bis zu ihrem Tod mit durchfüttern – um das einmal so auszudrücken - aber das möchte ich wirklich nicht!“
Der Vogt, bei dem Fiondil seine Anstellung gehabt hatte, war beim Verteidigungskampf ums Leben gekommen und der Graf, dem das Lehen gehörte, hatte noch keinen Nachfolger berufen.

Was den beiden außerdem Anlass zur Sorge bot, war, dass die Würgemale an Fiondils Hals einfach nicht verschwinden wollten. Die Salbe war inzwischen aufgebraucht und die Verletzung war eigentlich auch abgeheilt, aber die drei langgezogenen Abdrücke blieben! Zwar hatten sie sich von einem Rotblau allmählich über ein grünliches Violett zu einem fahlen, rötlichbraunen Ton verfärbt, aber man konnte sie immer noch ganz deutlich erkennen. Und auch ertasten. Fiondil trug daher weiterhin Halstücher.
Die Male sahen nun eigentlich ganz genauso aus wie ein Brandzeichen, hatte Evenila am Tag zuvor festgestellt. Und das hatten sie beide alles andere als beruhigend gefunden!

Nach einer Weile des Schweigens meinte Fiondil nachdenklich: „Ich hoffe ja darauf, dass der Graf jetzt bald einen neuen Vogt für Nimlond bestimmt und dass ich vielleicht meinen Dienst beim Nachfolger fortsetzen kann. Was ich mir auch schon überlegt habe, ist, mich selbst um diesen Posten zu bewerben. Ansonsten…“, bei diesen Worten sah er Evenila an, „...Müssten wir zunächst einmal nach Minas Tirith zurückkehren. Mondblume, wenn ich hier keine neue Anstellung finde und wir uns nicht von meiner Tante ‚durchfüttern‘ lassen wollen, wie du das so schön formuliert hast, dann wird uns nichts anderes übrigbleiben, als zunächst bei meinen Eltern wieder einzuziehen.“
Er sagte es ganz sachlich, aber Evenila überkam allein bei dem Gedankten daran das kalte Grausen. Zurück in dieses Haus? Zu den Eltern, die sie nicht als Schwiegertochter haben wollten und das ihm gegenüber auch klar geäußert hatten? Oh Himmel, bloß das nicht!

Sie schüttelte hastig den Kopf. „Lass uns bitte erst einmal noch abwarten, ja? Es ist ja noch völlig offen, wie sich das hier in Nimlond weiter entwickelt. Vielleicht haben wir ja Glück!“ Fiondil fasste ihre Hand, drückte sie kurz und lächelte Evenila zu. Dann erhoben sie sich, klopften sich den Sand von der Kleidung und spazierten zum Hafen hinüber, um den gerade einfahrenden Fischern und ihrer schon wartenden Kundschaft beim Feilschen zuzusehen.


--Fortsetzung folgt

( *Gugel : https://mittelalter.fandom.com/de/wiki/Gugel )
"Das Leben ist ein dorniger Rosenstock und das Glück die Blüte."

"So, könnt ihr alle noch schnaufen? Ich will ja nicht schuld sein,
wenn jemand während des Tanzens erstickt!"

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Re: Evenila - die Geschichte eines bewegten Lebens oder auch "Man weiß nie, was hinter der nächsten Ecke wartet!"

Ungelesener Beitragvon Evenila » Freitag 27. September 2019, 00:04

Fortsetzung


Dunkelheit und Alpträume

Zwei Tage später war die gute Nachricht eingetroffen, dass der Graf einen neuen Vogt berufen hatte. Zwar war die Wahl nicht auf Fiondil gefallen, aber der neue Vogt wollte immerhin den Stab an Angestellten und Beratern übernehmen, den der alte, verstorbene Vogt beschäftigt hatte.
Diese großartige Neuigkeit war mit einem opulenten Abendessen und ein paar Flaschen teuren Rotweins gefeiert worden. Evenila hatte innerlich jubiliert, dass ihr die Rückkehr in Fiondils Elternhaus erspart bleiben würde. Ohnehin wurde sie in unregelmäßigen Abständen immer wieder von den wenig erbaulichen Gedanken heimgesucht, dass sie sich spätestens an ihrer Hochzeit mit Fiondils Eltern auseinandersetzen musste. Die Gesichter, welche die beiden dazu machen würden, tauchten dann lebhaft vor ihrem geistigen Auge auf. „Versteinerte Mienen“ traf es am besten. Allmählich hatte sich Evenila damit abgefunden, dass sie wohl niemals akzeptiert werden würde. Bestenfalls konnte sie weiterhin distanzierte Höflichkeit erwarten.

Am Morgen nach den kleinen Feierlichkeiten hatte Fiondil beim Aufstehen etwas blaß ausgesehen und leichte Kopfschmerzen verspürt. „Muss der schwere Rotwein gewesen sein“, mutmaßte er , „Der ‚Carammír‘ hat es wirklich in sich! Ich glaube, ich hätte das vierte Glas einfach nicht mehr trinken sollen, das hat mir dann schon ziemlich die Füße weggezogen.“ Er zuckte grinsend mit den Schultern. „Naja, da muss ich jetzt durch. Heute ist mein erster Diensttag, da sollte ich mich um einen anständigen Eindruck bemühen!“ Nach einer Wäsche mit viel kaltem Wasser hatte er sich dann für halbwegs präsentierbar befunden und die behelfsmäßige Schreibstube des Vogts im Kasernengebäude aufgesucht.

Jedoch, die Kopfschmerzen wollten den ganzen Tag über und auch den folgenden Tag nicht weichen. Der dritte Tag verging und noch immer wurde Fiondil davon geplagt. Zusätzlich hatte er die letzten Nächte sehr schlecht geschlafen, sich viel herumgewälzt und sich am nächsten Morgen beim Aufstehen wie „von einem Mûmak zertrampelt“ gefühlt. Außerdem wirkte er immer noch blaß. Evenila musterte ihn eingehend. „Du scheinst dir irgend eine Erkrankung eingefangen zu haben. Wir stellen dir einen Kräutertee zusammen, von dem du dreimal täglich eine Tasse trinkst. Und am besten isst du in den nächsten Tagen auch nur leichte Kost wie Zwieback, Obst und Suppe.“
Gesagt, getan, indess – es half nichts! Die Kopfschmerzen wurden mal schwächer, mal stärker, verschwanden auch mal für mehrere Stunden, kehrten aber immer wieder zurück. Zusätzlich hielten die Schlafprobleme an und Fiondil fühlte sich bedingt dadurch zunehmend matter und ständig müde. Mittlerweile machte sich Evenila ziemliche Sorgen und hielt es für angeraten, den Heiler im Nachbarort aufzusuchen. Fiondil jedoch schob alles auf die Aufregungen und Anstrengungen der letzten Wochen und vertrat die Meinung, dass sich seine gesundheitlichen Probleme schon wieder geben würden.

Ein paar Tage später – Fiondil war außer Haus, um zu arbeiten – unterbrach Evenila ihre Studien, die sie seit einiger Zeit wieder aufgenommen hatte, um eine kurze Pause einzulegen. Fiondils Tante war ebenfalls nicht zu Hause, sie war mit ihrem Wagen in die Nachbarortschaft gefahren, um dort eine Freundin zu besuchen und die Dienerschaft war mit allen möglichen Hausarbeiten beschäftigt. Evenila schnitt sich in der Küche eine Scheibe Brot ab, schmierte Butter darauf und schlenderte mit ihrem Imbiss in Richtung Wohnstube, um sich in Ivriloths kleiner Hausbibliothek etwas Unterhaltsames zum Lesen zu suchen. In erster Linie standen dort Romane und Gedichtbände im Bücherregal, aber es waren auch ein paar Bücher über Geografie mit schön gezeichneten Landkarten, Kräuterkunde und alte Reiseberichte darunter. Evenila hatte die meisten der Bücher schon in Augenschein genommen, inspizierte nun aber einfach ohne bestimmten Grund noch einmal das gesamte Regal.
Da fiel ihr plötzlich ein unscheinbares, in weinrotes Leder gebundenes Buch auf, das sich, ein Stück nach hinten geschoben, auf dem untersten Regalbrett befand und sehr alt aussah. Der Buchrücken zeigte keinen Titel, war nur mit verschlungenen, mäanderartigen Mustern punziert.
Neugierig zog sie das Buch vorsichtig heraus und betrachtete den Deckel. Auch hier kein Titel. Sie schlug die Seiten auf und stellte fest, dass das Buch vollständig in Quenya verfasst war. Nun, ihre Kenntnisse der hochelbischen Sprache waren nicht die besten, aber sie wollte es auf jeden Fall versuchen. Auf dem Deckblatt war nun auch endlich ein Titel zu finden. „Wandeln im Licht – Der Kampf wider die Künste der Dunkelheit“ las sie laut. „Ach du… oh, Himmel!“ Plötzliche Aufregung machte sich in ihr breit. Großmeister Calandur hatte dieses Buch ein paar mal in seinem Unterricht erwähnt. Es sollte nur noch insgesamt fünf davon auf der ganzen bekannten Welt geben und laut den Worten des Großmeisters war es eines DER Werke, die Anleitungen zur Aufdeckung und Entfernung von Flüchen, Blendwerk des Schattens und Vertreibung von Geistern gaben! Verfasst hatte es vor vielen Jahrhunderten ein Erhabener Meister, dessen Name in einer marmornen Ehrentafel im Haus der Weisheit eingraviert stand.
Voller Ehrfurcht, aber auch von Wissensdurst und Neugier gepackt, kehrte Evenila mit dem Buch zu ihrem Schreibplatz zurück. Mit Sicherheit wusste Fiondils Tante gar nicht, was sie da für einen großartigen Schatz in ihrem Regal beherbergte. Vermutlich war dieses Exemplar irgendwann in den Besitz der Familie geraten und dann als Erbstück von Generation zu Generation weitergegeben worden.
Die Übersetzung würde sie einiges an Zeit kosten, da sie immer wieder etliche Wörter nachschlagen musste, aber diesen Aufwand war es mehr als wert, um dieses alte Wissen zu studieren! Für den restlichen Tag war sie damit beschäftigt gewesen, die ersten Kapitel des Buches durchzuarbeiten. Bald würde Fiondil nach Hause kommen.
Sie wollte das Buch eben zuklappen und beiseite legen, als ein bestimmter Abschnitt ihre Aufmerksamkeit auf sich zog.

Langsam und mit Hilfe ihres Wörterbuches übersetzte sie: „...Und sofern eine solche Begegnung mit einem Wesen der ewigen Nacht aus der Leere jenseits der Gestirne das Opfer nicht auf der Stelle das Leben kostet, so kann dessen grausige Berührung doch ein Mal hinterlassen, welches gleich einem magischen Stempel wirkt...“ Ein gewaltiger Schrecken packte Evenila und ihr wurde flau im Magen.
Hastig las sie weiter und starrte mit äußerster Konzentration auf die Schriftzeichen.
„... Wodurch das kalte Dunkel weiter Einfluss zu nehmen vermag auf den Gebrandmarkten, ihm nach und nach seine Kräfte zu entziehen und auch seinen Geist zu verderben vermag, bis derjenige dahinsiecht und zuletzt doch noch den Tod findet. Das reine Pulver des Bergkristalls wird es enthüllen, doch ist die Lösung solch eines unheiligen Bandes nicht leicht zu bewerkstelligen!“
Wie vom Donner gerührt saß sie am Tisch, schloss langsam das Buch und schluckte schwer. Oh, Himmel! Er wird doch nicht… was, wenn…? Sofort schüttelte sie entschieden den Kopf und schalt sich selbst eine einfältige Gans. Nein, dies musste erst einmal noch gar nichts bedeuten. Wegen eines alten Textes, dessen Inhalt auf Fiondils momentanen Zustand zu passen schien, ohne eine Überprüfung gleich in Hysterie zu verfallen, widersprach allen wissenschaftlichen und gelehrten Richtlinien!

Besaß sie noch eine Dose mit Kristallstaub? Nach kurzem Überlegen durchforstete sie ihre Besitztümer, jedoch erfolglos. In diesem Moment hörte sie, wie im Vorderhaus die Türe geöffnet wurde. Kurz darauf trat Fiondil herein und begrüßte sie mit einem Kuss. Er wirkte erschöpft und hatte dunkle Ringe unter den Augen. „Fiondil, eine Frage - es ist wichtig! Besitzt du noch etwas Kristallstaub?“ Erstaunt sah er sie an. „Ja, in meiner Kiste mit den ganzen Utensilien befindet sich eine silberne runde Büchse mit blauen Glassteinen auf dem Deckel, da drin sollte noch einiges davon enthalten sein.“ Sofort sprang Evenila ohne ein weiteres Wort auf und suchte das beschriebene Behältnis heraus. Dann trat sie an ihn heran und sagte „Bitte, nimm das Halstuch für einen Moment ab, ja?“ Obwohl sie sich bemühte, in normaler Stimmlage zu sprechen, schwang dennoch ihre Anspannung deutlich hörbar mit. Und Angst vor einem womöglich schlimmen Ergebnis der Untersuchung. Gehorsam löste er den Knoten und zog seinen Hemdkragen beiseite, Evenila öffnete den Deckel der Büchse und nahm eine große Prise des glitzernden Pulvers heraus. Fiondil erstarrte und zog die Augenbrauen hoch, er schien allmählich eine Ahnung zu haben, worum es hier ging.

Sie streute das Pulver auf ihre linke Handfläche, pustete es in die Luft, so dass der feine, glitzernde Staub vor Fiondil herumwirbelte und sprach befehlend: „Mi galad cenitham naid bain!“ Augenblicklich leuchtete der Kristallstaub hell auf, silbrig funkelnd wirbelte er in der Luft herum und da plötzlich - mit einem Mal – glühten die drei Abdrücke auf Fiondils Hals gut sichtbar in einem stumpfen, rötlich-violetten Licht! Ein gewundenes Band aus dem gleichen unheimlichen violetten Glühen verlief von den Malen weg in einer waagrechten Linie von etwa zwei Ellen Länge ins Nichts und hörte dort abrupt auf. Der Staub funkelte noch eine Weile und verblasste dann.
Erschrockenes Schweigen herrschte, eine Erklärung war nicht nötig. Weder Evenila noch Fiondil waren in der Lage, ein Wort zu sagen. Sie sahen sich einfach nur an. Nach einer gefühlten Ewigkeit brachte sie mühsam hervor: „Am besten, du nimmst ein Bad. Ich bereite hier inzwischen alles vor. Und dann versuchen wir, dich davon zu lösen. Er nickte stumm und beeilte sich, der Aufforderung nachzukommen.

Währenddessen fegte Evenila gründlich den Raum, entzündete Räucherwerk in einer kleinen Messingschale und zeichnete anschließend mit Kreide einen Ring aus elbischen Schriftzeichen und Sternensymbolen auf die Holzbohlen. Daneben legte sie Fiondils Gelehrtenstab und ihren Dolch bereit. Fiondil kam frisch gewaschen zurück, betrachtete eingehend ihr Werk, nickte und fügte an einer Stelle einen kleinen Strich hinzu. Dann zündeten sie gemeinsam vier weiße Kerzen an, stellten diese in den vier Himmelsrichtungen auf und Fiondil trat mit einem großen Schritt in den Kreis hinein. Draußen setzte die Abenddämmerung ein und die Sonne verschwand allmählich hinter dem Horizont.
Evenila begann mit einer Anrufung der Valar, nannte alle vierzehn beim Namen und rief dann insbesondere Varda Elentári an, ihnen dabei zu helfen, das Übel zu tilgen und die Finsternis zu vertreiben. Anschließend versuchten sie es nacheinander mit verschiedenen Bannformeln, Schutzrunen und einem Ritual zur Aufhebung von Flüchen. Fiondil stimmte jeweils zur Unterstützung in die Rezitationen mit ein. Nach jedem Versuch wiederholte Evenila die Probe mit dem Kristallstaub. Das violette Leuchten war jedoch nach wie vor da und wollte nicht weichen.
Schließlich war die Dose leer und sowohl Evenila als auch Fiondil waren von den Anstrengungen völlig erschöpft. Frustriert gaben sie auf. Beide waren im Gesicht beinahe so weiß wie die Kreideschrift auf dem Fußboden, als sie einander in die Arme nahmen. „Wir verfügen nicht über genügend Kraft“, stellte Evenila mit sachlicher Stimme fest, worüber sie selbst überrascht war. „Wir müssen nach Hilfe suchen und die finden wir wohl nur in der Tham en-Haelas!“
Da keine Zeit zu verlieren war, begannen sie auf der Stelle damit, ihre Sachen zusammenzupacken. Nun konnten sie die Male auf Fiondils Hals auch nicht mehr länger vor Ivriloth verbergen, denn eine plötzliche Abreise ohne Grund war ja schlechterdings unmöglich.

Zu ihrer beider Erstaunen hatte die Tante die Erklärung jedoch mit großer Fassung getragen und hatte sogar darauf verzichtet, ihnen werden der vorherigen Geheimhaltung Vorwürfe zu machen. „Ich verstehe, dass jeder weitere Tag der Verzögerung meinem Neffen Schaden zufügen kann und dass ihr so schnell wie möglich aufbrechen müsst“, hatte sie zuletzt gesagt. „Um Reiseproviant braucht ihr euch nicht zu kümmern, ich stelle euch etwas zusammen.“
Nachdem Evenila kein eigenes Reittier mehr besaß, gab Ivriloth ihnen den Rat, alle in der Nachbarschaft zu fragen, denen sie bei den Aufräumarbeiten geholfen hatten und die ein Fuhrwerk besaßen. Tatsächlich fand sich schon in der zweiten Familie, bei der sie vorsprachen und den Anlass schilderten jemand, der bereit war, Evenila in die Weiße Stadt zu fahren.
Bei Sonnenaufgang des übernächsten Tages verabschiedeten sie sich von Ivriloth, dankten ihr von Herzen für alles und brachen auf. Fiondil ritt auf ‚Grauer‘ neben dem Wagen her. Der Nachbar, der auf dem Kutschbock saß, entpuppte sich als angenehmer Gesprächspartner, der nach Kräften versuchte, die beiden abzulenken und nicht in eine trübsinnige Stimmung abgleiten zu lassen.
Dies gestaltete sich im Verlauf der Reise jedoch zunehmend schwieriger, da Fiondil nun immer deutlichere Zeichen körperlicher Erschöpfung und Schwäche erkennen ließ und jeden Tag mehr Mühe hatte, acht Stunden lang auf dem Pferderücken zu sitzen.
Zuletzt waren sie gezwungen gewesen zu tauschen. Evenila ritt nun auf ‚Grauer‘ nebenher und Fiondil saß zusammengesunken im Wagen. Als das Stadttor in Sicht kam, hatte Evenila grenzenlose Erleichterung verspürt. Ohne Umwege hatten sie das Haus der Weisheit angesteuert, Fiondil dann vom Wagen heruntergeholfen und den diensthabenden Meister herbeirufen lassen.

Dieser begrüßte Evenila und Fiondil erfreut, da er sie beide erkannte. Nachdem sie ihm jedoch rasch in groben Zügen geschildert hatten, was geschehen war, zeigte sich der ältere Herr sehr erschrocken. Sogleich rief er ein paar Bedienstete herbei, gab Anweisungen und hieß sie sich eilen. Mit tiefen Sorgenfalten auf der Stirn wandte er sich anschließend wieder den beiden zu und schickte sie zum Haus der Heilung. Dort würde alles umgehend für den jungen Herrn Vëanturion Telperinarë vorbereitet und es würde ihn sogleich einer der Meister eingehend untersuchen.
So geschah es.
Evenila erhielt wieder eine Gästekammer in der Tham en-Haelas zugewiesen und verbrachte die folgenden Tage von früh bis spät an Fiondils Krankenbett. Er lag in einem geschmackvoll eingerichteten, gemütlichen Zimmer im zweiten Stockwerk des Hauses der Heilung, mit Blick auf den Pelennor. Wenn nicht das Räucherwerk sowie die Schutzrunen und die vier Dodekaeder aus Bergkristall rund um sein Bett gewesen wären, hätte man meinen können, es handele sich um ein Zimmer in einer noblen Herberge. Auch seine beiden Freunde Pelendur und Arciryas besuchten ihn, so oft es ihnen möglich war, nachdem sie von seinem Schicksal erfahren hatten und bemühten sich nach Kräften, Fiondil aufzuheitern und ihm Zuversicht zu vermitteln.

So vergingen drei Wochen, in denen sich keine Besserung einstellen wollte. Er fühlte sich schwach und wackelig auf den Beinen, wurde immer wieder von Schwindelanfällen gepackt. Trotz der magischen Schutzvorrichtungen wurde er außerdem inzwischen jede Nacht von Alpträumen heimgesucht und der Schlaf war entsprechend wenig erholsam. Dies machte ihm schwer zu schaffen und zermürbte ihn allmählich regelrecht. Es war ihm von den Meistern nur für kurze Momente gestattet, den geschützten Bereich um sein Bett zu verlassen. Daran hielt er sich auch zuverlässig, da er inzwischen direkt fühlen konnte, wie ihm die Lebenskraft entzogen wurde, wenn er sich zu lange außerhalb des Schutzkreises aufhielt.
Daher bat er Evenila, sein Elternhaus aufzusuchen und von dort einige Sachen für ihn zu zu holen. Sie nickte, obwohl ihr schon bei dem Gedanken daran graute. Aber ihm zuliebe würde sie in den sauren Apfel beißen.


Also klopfte sie dort eine halbe Stunde später an die Tür und wurde von der Hausdame hereingebeten.
Evenila schilderte ihren Auftrag, als plötzlich Ailinn, Fiondils Mutter, im Durchgang zur Wohnstube erschien. Ihre Miene wirkte eisig und die Temperatur in der Eingangshalle schien abrupt um etliche Grad zu sinken. Nun, offenbar war jetzt auch die Zeit der distanzierten Höflichkeit vorbei, stellte Evenila innerlich fest. Ailinn winkte die Hausdame mit einem strengen „Geh´nur, ich kümmere mich selbst um alles!“ davon und führte Evenila ohne ein weiteres Wort in Fiondils Räumlichkeiten hinauf.

Dort angekommen, drehte sie sich zu ihr um und sagte in anklagendem, vorwurfsvollen Ton: „So, mein Sohn wurde also von einer Dienerkreatur Morgoths verflucht! Dies wäre nicht geschehen, wenn er hier in der Stadt geblieben wäre. Ich nehme an, es war dein Antrieb, der ihn dazu brachte, sich eine Stelle dort drunten an der Küste zu suchen?“ Aha, daher wehte also der Wind!
Evenila beschloss, es mit der Höflichkeit nun auch gut sein zu lassen und entgegnete empört: „Das ist nicht wahr! Er hat niemals gesagt, dass er hier in der Stadt bleiben will. Und nachdem IHR ihn so unter Druck gesetzt habt, kam ihm diese weit entfernte Arbeitsstelle nur recht! Außerdem handelt es sich nicht um einen Fluch!“ Ailinn machte eine wegwerfende Geste. „Es ist mir letztendlich gleich, was genau es ist. Jedenfalls bedeutet es, dass sein Leben ernstlich bedroht ist! Unter Druck gesetzt?“ Sie schnaubte zornig. „Ja, und das aus gutem Grund! Das Haus Telperinarë ist eine alte, ehrwürdige Familie. Zwar haben wir kein reines númenorisches Blut mehr, da über die Jahrhunderte einige Menschen anderer Herkunft einheirateten, aber alle davon waren ebenfalls von hohem Stand oder entstammten einflußreichen und vermögenden Familien. Nichts davon trifft auf dich zu!“
„Mein Vater war ein sehr wohlhabender Mann mit einem gut gehenden Kontor und vielen guten Handelspartnern bei Menschen, Elben und Zwergen!" fauchte Evenila. "Er war nicht adelig, aber ein sehr ehrenhafter und herzensguter Mensch!“
Ailinn runzelte die Stirn und stellte grimmig fest: “Das mag ja sein. Aber er ist tot und damit ist euer Haus untergegangen. Alles gehört nun einer dahergelaufenen Fremden, die dich bestohlen und betrogen hat. Bis diese Person nicht irgendwann stirbt, bist zu besitzlos und zudem ist es fraglich, ob noch viel von dem Vermögen übrig sein wird oder ob sie alles darnieder wirtschaftet!“
„Für dich und deinen Mann scheinen ja wirklich nur ein tadelloser Stammbaum oder eine volle Goldkiste und große Ländereien eine Rolle zu spielen. Bedeutet das dann eigentlich, dass ich auch dumm wie ein Stein und ein charakterliches Monstrum sein könnte, Hauptsache, ich bin reich oder von Stand?“ Evenila sah, wie Ailinns Gesicht rot anlief und sie offenbar darum rang, die Fassung zu behalten. Dann jedoch hatte sie sich wieder in der Gewalt und sagte kalt: „Sag´mir, was unterscheidet dich denn eigentlich von dieser Frau – ich glaube, Hildruna ist ihr Name? Wenn wir es einmal einfach betrachten, dann heiratete sie in eine reiche Familie ein, um ausgesorgt zu haben und ein bequemes Leben führen zu können, nicht wahr?“
Für einen Moment war Evenila sprachlos. Das konnte diese alte Wachtel doch nicht ernst meinen, oder? Gewaltiger Zorn wollte sich Bahn brechen, aber den Gefallen, hier nun herumzutoben, wollte sie Ailinn auf gar keinen Fall geben. Sie atmete tief ein. „Der Unterschied? Ich erkläre Ihn dir, da du ihn offenbar nicht erkennen kannst. Hildruna handelt aus reiner Berechnung und Habgier. Ich hingegen liebe Fiondil aufrichtig aus tiefstem Herzen und es ist mir völlig gleichgültig, aus was für einer ach so ehrwürdigen Familie er stammt! Aber vermutlich verstehst du überhaupt nicht, was Liebe ist. Du tust mir leid! Und nun würde ich gern die Sachen nehmen, die Fiondil haben möchte und gehen.“ Ailinn sog scharf die Luft ein, sagte aber kein einziges Wort mehr.
Nachdem Evenila alles zusammen gesucht hatte, verließ sie das Zimmer und ohne Fiondils Mutter noch eines weiteren Blickes zu würdigen, marschierte sie im Stechschritt die Treppe hinunter und zur Türe hinaus.

„Das war´s jetzt wohl!“, sinnierte sie, „DIE Kutsche ist abgefahren. Aber jetzt hat diese Schabracke endlich einmal ihr wahres Gesicht gezeigt… wenn ich´s mir recht überlege, grenzt es fast an ein Wunder, dass der Sohn bei so gräßlichen Eltern zu einem solch liebenswerten Menschen geworden ist! Er muss sich wohl selbst erzogen haben.“

Evenila kehrte zum Haus der Heilung zurück und übergab Fiondil die gewünschten Dinge. Von dem Streitgespräch mit seiner Mutter erwähnte sie jedoch lieber kein Sterbenswort, da es ihm ohnehin schon schlecht genug ging. Nach weiteren drei Wochen teilte ihr ein Meister der Tham en-Haelas mit, dass man nun leider ihre Gästekammer für einen neuen Lehrling benötige und sie daher, so ungern man dies auch tue, bitten müsse, sich eine andere Unterkunft in der Stadt zu suchen.

Als sie Fiondil von diesem Problem berichtete, war Arciryas gerade zugegen gewesen und hatte sofort angeboten: „Mach´dir keine Sorgen, du kannst in meinem Haus im Gästezimmer wohnen, solange du willst! Du hast es dann hierher lediglich weiter als bisher, da sich mein Haus drunten im dritten Ring der Stadt befindet.“ Erleichtert und dankbar nahm Evenila das Angebot an, räumte ihre Habseligkeiten zusammen und zog in Arciryas Gästezimmer ein. Das Haus war vergleichsweise klein und eher spartanisch eingerichtet – Arciryas legte offenbar nicht viel Wert auf überflüssiges Mobiliar. Als Dekoration gab es ein paar Pflanzkübel und ein schmales Bücherregal mit Gedichtbänden, Fachliteratur zu Fechtkunst und gondorischer Geschichte sowie ein umfangreiches Werk über Pferde. Außerdem beschäftigte er keine Diener, da er die Ansicht vertrat, dass er sein Haus einmal die Woche auch gut selbst kehren und putzen konnte.
Seine getragene Kleidung ließ er regelmäßig von einer Wäscherei abholen und seine Mahlzeiten bereitete er selbst zu. Überraschenderweise entpuppte er sich diesbezüglich als talentierter und experimentierfreudiger Koch. Seine freie Zeit widmete Arciryas der Kunst des Malens, in allen Räumen hingen gerahmte Kohlestift-Zeichnungen und Ölbilder an den Wänden. „Ein Schwertmeister muss auch in anderen zivilisierten Dingen gebildet sein“, hatte er Evenila erklärt, „Ansonsten wäre er ja einfach nur ein besonders geübter Haudrauf!“ Evenila hatte sich die Bilder und Skizzen aus der Nähe angesehen und für sehr gelungen befunden, tatsächlich verfügte Arciryas über einiges künstlerische und kreative Talent.
Dies sah man ihm nicht unbedingt an.
Er war etwas kleiner als Fiondil, dafür aber wesentlich breitschultriger und von sehr muskulöser und durchtrainierter Statur. Sein langes, dunkelbraunes Haar trug er üblicherweise zu einem Zopf geflochten oder im Nacken zu einem Knoten zusammengebunden. Zudem war Arciryas ein geradezu blendend aussehender Mann, mit ebenmäßigem, glattrasierten Gesicht und azurblauen Augen. Evenila schätzte ihn auf etwa Mitte Dreißig. Wenn er des abends eine Taverne besuchte, konnte er sich der allgemeinen Aufmerksamkeit anwesender Damen, wie auch des Neids anwesender Herren sicher sein. Erstaunlicherweise machte er sich jedoch nicht allzu viel daraus. Zwar war die ein oder andere Liebelei über ihn bekannt, jedoch hatte es sich dabei wohl immer nur um kurze Episoden gehandelt und seine eigentliche Leidenschaft galt dem Tanz mit dem Schwert.

Wenn das Haus der Heilung abends für Besucher geschlossen wurde und Evenila Fiondil daher bis zum nächsten Morgen verlassen musste, saß sie mit Arciryas oft noch stundenlang am Tisch oder auf dem Balkon und redete. Bei irgendjemandem musste sie einfach ihre Sorgen, Befürchtungen und Ängste loswerden und der Schwertmeister war ein geduldiger Zuhörer. Gleichzeitig versuchte er, sie aufzuheitern und zu verhindern, dass sie völlig in schwermütigen Gedanken versank. Denn allmählich begann sie sich zu fragen, ob es jemals gelingen würde, Fiondil aus den Klauen der Finsternis zu befreien, so dass er das Haus der Heilung wieder verlassen konnte!



--Fortsetzung folgt
"Das Leben ist ein dorniger Rosenstock und das Glück die Blüte."

"So, könnt ihr alle noch schnaufen? Ich will ja nicht schuld sein,
wenn jemand während des Tanzens erstickt!"

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Re: Evenila - die Geschichte eines bewegten Lebens oder auch "Man weiß nie, was hinter der nächsten Ecke wartet!"

Ungelesener Beitragvon Evenila » Sonntag 6. Oktober 2019, 20:32

Fortsetzung


Wahrheit, Gerüchte und der lange Arm der Finsternis

Weitere Zeit verging, ohne dass eine Entwicklung zum Besseren eintrat und die Alpträume hielten unvermindert an.Tagsüber saß Fiondil auf dem Bett und Evenila leistete ihm Gesellschaft. Hin und wieder spielte sie ihm ein wenig auf der alten Laute ihres verstorbenen Vaters vor, zumindest die einfachen Weisen, die sie von Ivriloth gelernt hatte. Manchmal saßen sie beide einfach nur nebeneinander und lasen Bücher, es reichte ihnen in diesen Momenten, zusammen zu sein. Evenila brachte ihm Wein und Leckereien aus der Stadt mit und tat alles, um Fiondil aufzuheitern und ihm Lebensmut zu vermitteln, obwohl es in ihr selbst mittlerweile völlig anders aussah.
Sie hütete sich jedoch davor, sich dies anmerken zu lassen und pflegte ihre Maske der Zuversicht sehr sorgfältig.

Eines Abends, als sie sich gerade angeschickt hatte, das Haus der Heilung zu verlassen, war ihr einer der Meister über den Weg gelaufen. „Ah, Fräulein Branwoldsdotor, einen guten Abend wünsche ich Euch!“ brummte der ältere Herr freundlich. „Danke, auch Euch einen guten Abend, hîr Cemendil“ antwortete sie niedergeschlagen. Nun, da sie sich außerhalb von Fiondils Krankenzimmer befand, verbarg sie ihre wahren Gefühle nicht länger. „Ich möchte Euch fragen, wie Ihr die Lage einschätzt – können wir bald auf eine Wendung zum Besseren hoffen? Wird sich dieses verfluchte Band nicht bald lockern lassen oder gar endlich lösen?“ Die Verzweiflung und die Angst um Fiondil standen ihr nun deutlich ins Gesicht geschrieben.
Meister Cemendil sah sie voller Teilnahme an. Er ließ sich Zeit mit der Antwort und schien zu überlegen, was er Evenila sagen konnte oder sollte. Vielleicht wollte er sich zunächst möglichst diplomatisch halten, auf der einen Seite nicht zusätzliche Ängste schüren, auf der anderen Seite jedoch auch keine falsche Hoffnung verbreiten.
Nach einer Weile entschied er sich jedoch dafür, völlig offen und aufrichtig zu sein. „Ich vermag es Euch nicht zu sagen, Fräulein Brandwoldsdotor. Es tut mir leid. Wir haben keine Erfahrung mit solchen Fällen, es ist in den vergangenen Jahrhunderten nicht vorgekommen. Es existieren nur alte Aufzeichnungen über solche unheiligen Verbindungen, in denen eine Person von einem Geist aus der Finsternis jenseits der Sternensphären gebrandmarkt und allmählich zu Tode gebracht oder in den Wahnsinn getrieben wird. Wir haben das Werk ‚Wandeln im Licht‘ zu Rate gezogen...“. „Ich auch!“ murmelte Evenila reflexhaft, mehr zu sich selbst, woraufhin der alte Meister reichlich verblüfft dreinblickte. „Ihr habt… Was um… Wie seid Ihr denn in den Besitz eines dieser Bücher gekommen? Es sind nur noch insgesamt fünf von ihnen in Ennorath erhalten und eines davon wird hier in Minas Tirith in der Halle der Weisheit im abgesperrten Trakt für besonders alte und kostbare Schriften aufbewahrt. Nur wenige ausgewählte Gelehrte dürfen es berühren!“ „Ja, das ist mir bekannt“, antwortete Evenila, „Es wurde – wohl in Unkenntnis des wahren Wertes - als altes Erbstück des Hauses Telperinarë innerhalb der Familie weitergegeben und ich habe es zufällig entdeckt. Und gelesen.“
Bei diesen Worten trat ihr plötzlich siedend heiß ins Bewusstsein, dass sie das Buch versehentlich zusammen mit den ihren mitgenommen hatte, als sie und Fiondil eilig alles für die Reise hierher gepackt hatten. „Oh, Himmel, verdammt, Hagelsturm und Blitzgewitter!“ erschrak sie innerlich und lief rot an, „Auch wenn Ivriloth nicht weiß, wie wertvoll das Buch ist, ich kann es nicht einfach behalten. Jetzt habe ich es quasi von ihr gestohlen.“
Meister Cemendil musste aufgefallen sein, dass Fräulein Brandwoldsdotor mit einem Mal errötete, da er aber natürlich keine Gedanken lesen konnte, hielt er es vermutlich einfach für Aufregung.
„Nun, dann ist Euch bekannt, dass selbst der Erhabene Meister, der das Werk damals verfasst hat, solche Verbindungen als äußerst heikel angesehen hat. Noch dazu...“, er zögerte kurz, „… Handelt es sich in unserem speziellen Fall offenbar um einen Geist von großer Macht. Ich gehe davon aus, dass dieser elende Schwarzmagier, der ihn hierher gerufen hat, überhaupt nicht in der Lage gewesen wäre, den Geist lange zu beherrschen. Ihr habt uns berichtet, dass Ihr die Abscheulichkeit gebannt habt. Wie, bei Elbereth, habt Ihr das bewerkstelligen können? Ihr habt die Prüfung zum Geringeren Meister noch nicht abgelegt und ich gehe davon aus, dass selbst ein Höherer Meister oder vielleicht sogar ein Großmeister ordentliche Anstrengungen hätte aufbieten müssen!“

Überraschung zeigte sich auf Evenilas Gesicht, die Erinnerung an diesen unseligen Tag liefen wie sich bewegende Bilder vor ihrem geistigen Auge ab und sie versuchte, sich alle Einzelheiten dieser Begegnung wieder ins Gedächtnis zu rufen. Schließlich antwortete sie langsam: „Ehrlich gesagt, kann ich Euch diese Frage nicht beantworten, hîr Cemendil. Ich… ich habe damals kaum nachgedacht. Ich habe in diesem Moment einfach gehandelt, in der festen Überzeugung, dass ein Scheitern einfach nicht in Frage kommt!“ Nachdenklich sah sie den älteren Herren an. Der machte aus seiner Verwunderung keinen Hehl. „Wirklich erstaunlich, Fräulein Branwoldsdotor. In Euch steckt offenbar mehr, als andere und vielleicht auch Ihr selbst vermuten. Vielleicht sind Euch auch die Valar in diesem dunklen Moment zu Hilfe gekommen, wer weiß? Jedenfalls, um zum eigentlichen Punkt zurückzukommen – diese finstere Entität lässt ihr Opfer nicht aus den Klauen und bis jetzt haben wir kaum mehr erreicht, als einen geschützten Bereich zu schaffen, in dem sie Herrn Fiondil Vëanturion nicht erreichen kann. Es tut mir sehr leid!“ Er seufzte resigniert. „Wir haben vor ein paar Tagen nach Großmeister Calandur geschickt, aber es wird noch geraume Zeit dauern, bis er hier eintrifft.“
Evenila schluckte. Sie verspürte einen dicken Kloß im Hals und Tränen wollten aufsteigen, aber sie unterdrückte sie mit aller Kraft. „Habt Dank für Eure aufrichtigen Worte, hîr Cemendil“, sagte sie mühsam beherrscht, schüttelte ihm die Hand und machte sich auf den Rückweg zu Arciryas Haus. Dort angekommen, war es jedoch mit ihrer Beherrschung vorbei und die zurückgehaltenen Tränen liefen an ihren Wangen hinunter. Arciryas spähte aus dem Durchgang zur Küche hinaus, als er das Geräusch der sich öffnenden und schließenden Haustür vernahm, offenbar war gerade damit beschäftigt gewesen, ein Abendessen zuzubereiten. Als er Evenila sah, war ihm sogleich klar, dass es schlechte Neuigkeiten gab und ging zu ihr hinüber.
Wortgetreu berichtete sie ihm alles, was sie von Meister Cemendil erfahren hatte, woraufhin auch Arciryas ein sehr betroffenes Gesicht machte. Er nahm sie für einen Moment tröstend in die Arme und suchte nach aufbauenden Worten. „Gib die Hoffnung nicht auf, Nila,“ sagte er nach einer Weile , „Immerhin soll Großmeister Calandur ja einer der größten lebenden Spezialisten auf dem Gebiet der Geisteraustreibung sein… wenn wir vielleicht von elbischen Meistern absehen, die es in Lindon oder wo auch immer sicherlich noch gibt. Er wird dieses verfluchte Ding in seine Schranken weisen und ihm ordentlich in den Hintern treten – im übertragenen Sinn natürlich! Ich bin mir ganz sicher!“ Er lies sie los und nahm sie bei der Hand, um sie in die Küche zu führen. „Komm, das Abendessen ist fertig. Bitte sabotiere meine Kochbemühungen jetzt nicht, indem du sagst, dass du keinen Hunger hast!“
Daraufhin hatte Evenila lächeln müssen, obwohl ihr so gar nicht danach zumute war.

Sie gehorchte und setzte sich artig an den Küchentisch. Auch die Küche war, wie der Rest von Arciryas Haus, eher karg eingerichtet. Aber von einer Reihe Haken an einem Holzbalken hingen große, getrocknete Sträuße von Salbei, Thymian und Rosmarin an Schnüren herab und in Keramiktöpfen auf der Fensterbank zog er Basilikum, Melisse, Petersilie, Schnittlauch und noch einige andere Kräuter. Der Tisch und die vier dazu passenden Stühle waren aus schwerem, dunklen Holz gezimmert und die Wände blau-weiß gefliest. Im eisernen Ofen prasselte noch ein lustiges Feuer. Alles in allem vermittelte der Raum einen heimeligen Eindruck. Nach einer Weile lies sich Evenila schließlich von Arciryas fortgesetzten, hartnäckigen Aufheiterungsbestrebungen anstecken und fühlte sich wieder etwas besser.

Ein paar Tage später kam Arciryas etwas später als sonst nach Hause. Pikiert schüttelte er den Kopf, als er in die Wohnstube trat. Evenila saß dort gerade über ein Buch gebeugt, nahm die Bewegung jedoch aus den Augenwinkeln war. „Was ist los?“ fragte sie ihn mit verhaltener Neugier. „Hat man dich geärgert?“ Arciryas wiegte leicht den Kopf. „Ja und nein. Wobei, geärgert eigentlich nicht. Ich würde es mehr als ‚dummes, albernes Gewäsch‘ bezeichnen.“ Sie sah ihn fragend an, woraufhin er erklärte: „Ich wurde heute nach dem Unterricht von Angestellten in der Halle der Kampfkunst tatsächlich darauf angesprochen, ob es denn stimmte, dass ich mit dir.. ähm,… ‚etwas hätte‘!“ Erneut schüttelte er den Kopf. „Wirklich blöde, nicht wahr?“ Evenila war für einen Moment lang baff. „Haben die Leute keine anderen Sorgen?“ fragte sie dann empört. „Ich meine, bloß, weil ich in deinem Gästezimmer wohne, muss ich doch nicht zwangsweise etwas ‚mit dir haben‘, wie sie das so schön formulieren! Immerhin bin ich mit Fiondil verlobt!“
Arciryas nickte. „Jaja, das wissen sie auch. Aber scheinbar haben sie nichts besseres zu tun, als darüber zu sinnieren, ob du dir vielleicht übergangsweise einen… ähm,… neuen Mann angelacht hast. Da Fiondil ja nun schon viele Wochen im Haus der Heilung liegt!“ Sie wirkte nun ehrlich erbost und getroffen. „Das ist ja wohl die Höhe! Was soll ich denn machen – ausziehen und mir ein günstiges Zimmer in einem Gasthaus suchen, damit das Getratsche ein Ende hat?!“ „Unsinn!“, kommentierte Arciryas, „Die Leute suchen einfach immer etwas, worüber sie sich das Maul zerreißen können. Dagegen ist kein Kraut gewachsen. Lass´sie einfach reden und ignorier´es! Ich dachte nur, ich informiere dich lieber, nicht, dass du es irgendwo zufällig mitbekommst und dann völlig aus dem Häuschen gerätst!“ Evenila nickte zögernd und beschloss dann, das Thema nicht weiter auszubreiten. Wenn dieser Klatsch seinen Weg schon in die Halle der Kampfkunst gefunden hatte und man sogar Arciryas direkt danach fragte, dann war er bestimmt auch schon an die Ohren von Fiondils Eltern gedrungen. Das würde es kaum besser machen. Andererseits war in dieser Beziehung ohnehin nichts mehr zu retten, also war es eigentlich egal. Oder?
Wenn sie sich selbst gegenüber völlig ehrlich war, musste sie sich jedoch eingestehen, dass sie sich auf eine seltsame Art von dem Getratsche auch ein wenig geschmeichelt fühlte. Immerhin gab es in der Stadt etliche Mädchen und Frauen, die Arciryas hinterher schmachteten. Außerdem – wenn die Leute ernsthaft in Betracht zogen, dass SIE ein Verhältnis mit ihm haben könnte, dann… ja, dann konnte sie ja wohl nicht ganz hässlich sein, nicht wahr?! Ein kurzes Schmunzeln glitt über ihre Lippen, während sie weiterlas.


Dann aber war der alles verändernde Tag angebrochen, an dem das Unheil seinen Lauf nahm und der Evenila noch lange in schlimmer Erinnerung bleiben würde.

Sie war wie jeden Morgen zum Haus der Heilung hinaufgegangen und hatte an Fiondils Bett Platz genommen. Nun dachte sie gerade darüber nach, ob sie auch ihm von den Worten des Meisters erzählen sollte oder ob dies eher kontraproduktiv wäre. Wenn sie nichts sagte, verschwieg sie Fiondil die Wahrheit über die derzeitige Lage. Bevormundete sie ihn damit oder war es zum Wohle seiner seelischen Verfassung und seines Willens, zu kämpfen, die richtige Entscheidung?
Auf ihrer Unterlippe kauend wägte sie Für und und Wider gegeneinander ab, als Fiondil plötzlich fröstelte und sich daher seine Bettdecke wie einen Umhang über den Rücken hängte.
Er sah aufgrund seines Zustands ohnehin schon sehr blaß aus und seine Augenringe schienen noch dunkler geworden zu sein, da er weiterhin aufgrund der grässlichen, allnächtlichen Alpträume sehr schlecht schlief. Aber nun wirkte seine Gesichtsfarbe noch etwas fahler. „Es ist irgendwie reichlich kühl hier drin, meinst du nicht auch?“ fragte er. Evenila blickte ihn erstaunt an und deutete dann zum Fenster hinaus. „Also… draußen scheint die Sonne und wir haben ziemlich hohe Temperaturen für einen Frühlingstag! Ich habe meinen Mantel nicht mitgenommen, weil mir damit viel zu warm gewesen wäre. Ich...“, abrupt brach sie ab, da sie es in diesem Moment nun ebenfalls fühlte.
Mit wachsendem Entsetzten bemerkte sie, wie ihr Atem vor ihrem Gesicht zu einer Wolke kondensierte. „Was zum Henker geht hier vor?“ flüsterte sie. Ihre Nackenhaare schienen sich aufzurichten und ein Schauer lief ihren Rücken hinab. Sie sprang auf und versuchte, den Ursprung der plötzlichen Eiseskälte festzustellen, als Fiondil plötzlich mit weit aufgerissenen Augen auf die leere, weißgekalkte Wand gegenüber seinem Bett starrte. „Was… was ist das für eine Teufelei?“ brachte er mühsam hervor. Evenila fuhr herum und sah ebenfalls auf die Wand, konnte jedoch absolut nichts entdecken. „Fiondil, bitte, da ist nichts!“ „Wieso siehst du das nicht? Das kann doch nicht sein, du musst es doch auch sehen! Ich bin doch nicht verrückt!“ seine Stimme klang nun angstverzerrt.
Er deutete von seinem Bett aus mit dem Zeigefinger auf eine bestimmte Stelle. „Bei den Valar! Oh, Elbereth! Da ist ein schwarzer Wirbel, wie von Rauch oder Nebel und er wird immer größer… er öffnet sich… dahinter ist ein Nachthimmel und mir völlig unbekannte Sternbilder zu sehen! Nein! Nein!“ Er schrie nun. „Da ist etwas. Dort lauert etwas und starrt mich an, da, von der anderen Seite aus an, ich fühle es! Hilfe, hilf mir!“ Seine Schreie verebbten und gingen in ein von namenlosem Entsetzen erfülltes Keuchen über. Die Schreckensstarre fiel von Evenila ab und sie sprang zur Zimmertür, um draußen Hilfe herbeizuholen. Dabei hatte sie das Gefühl, sich wie in Zeitlupe zu bewegen. Alles war so rasend schnell gegangen.

Draußen auf dem Gang brüllte sie das ganze Haus zusammen, bis alle derzeit anwesenden Meister und Pfleger vor dem Zimmer versammelt waren. Ein Bild des Schreckens bot sich ihnen dort. Fiondil lag auf dem Bett und schrie nun wieder, voller Todesangst und schien irgend etwas Unsichtbares von sich weghalten zu wollen. „Es kommt, um mich zu holen!“ war dennoch deutlich zu verstehen. Sofort stürzten die Meister entgegen ihrer sonstigen würdevollen Gangart ins Zimmer und stimmten eine Anrufung der Valar an. Ein Pfleger hastete mit dem Auftrag davon, noch mindestens einen Meister aus der Tham en-Haelas herbeizuholen. Als kurz darauf zwei davon eiligst eintrafen, begannen sie sofort damit, Schutz-Sigillen über dem Bett in die Luft zu zeichnen.
Schließlich hörte Fiondil auf zu schreien und gegen das, was auch immer er sah, anzukämpfen. Die Luft im Zimmer erwärmte sich wieder. Er starrte noch eine Weile an die Wand, totenbleich, schwer atmend und mit ins Bettlaken gekrallten Fingern. Dann verdrehte er die Augen, so dass fast nur noch das Weiß des Augapfels zu sehen war und wurde ohnmächtig.
Evenila beobachtete wie betäubt die Szenerie und kam sich vor wie in einem katastrophalen Theaterstück. Dies konnte unmöglich real sein! Ihr Geist weigerte sich, das Gesehene zu verarbeiten und als wahr anzuerkennen. Eine ganze Zeitlang stand sie stocksteif da und hatte das Gefühl, selbst gleich jeden Moment in Ohnmacht zu fallen, bis einer der Meister sie direkt ansprach. „Fräulein Branwoldsdotor? Alles in Ordnung mit Euch? Wartet, wo habe ich nur mein Riechsalz?“ Er tastete über seine Gürteltaschen, bis er das Gesuchte fand und Evenila ein Fläschchen mit einer stechend riechenden Flüssigkeit unter die Nase hielt, die ihr in den Augen biß.

Schlagartig kam sie wieder zu sich. „Ja, mit mir ist alles in Ordnung“, stammelte sie, „Aber was wird nun mit Fiondil geschehen? Was wollt ihr nun tun?“ Der Meister blickte kummervoll drein und antwortete: „Wir werden ihn nun in einen künstlichen Betäubungsschlaf versetzen, bis Großmeister Calandur angekommen ist und der Inbesitznahme ein Ende bereiten kann. Da Herr Fiondil Vëanturion deshalb bis auf Weiteres nicht mehr ansprechbar und in der Lage sein wird, selbst Entscheidungen zu treffen, werden wir nun seine Familie benachrichtigen. Sie müssen nun für ihn sprechen, da Ihr leider noch nicht mit ihm vermählt seid!“
Evenila nickte stumm. Das war die gesetzliche Vorgehensweise.

Ein Bote wurde ausgeschickt und nicht lange darauf erschienen Fiondils Eltern in Begleitung eines Meisters im Türrahmen des Krankenzimmers. Sie bedachten Evenila mit eisigen Blicken, besser gesagt, bedachte Ailinn sie sogar mit ausgesprochen feindseligen Blicken. Vëantur baute sich inmitten des Zimmer auf und sprach in grimmigem Ton: „Wir werden hier nun bestimmen, wie es weitergeht und was gut für unseren Sohn ist und was nicht! Da er ja nicht mehr bei sich ist. Und als erstes ordne ich hiermit an, dass diese Person“, bei diesen Worten zeigte er auf Evenila, „von hier zu verschwinden und sich von diesem Zimmer fern zu halten hat. Und bis Fiondil nicht erwacht, bleibt das auch so!“
Zunächst starrte Evenila ihn völlig entgeistert an, dann wurde sie von gewaltiger Wut gepackt. Jedoch war ihr klar, dass es überhaupt keinen Sinn machte, hier nun herumzutoben und einen Eklat zu verursachen. Daher atmete sie ein paarmal tief durch, wartete kurz ab, bis ihre Knie und Hände nicht mehr vor Zorn und Aufregung zitterten und stand dann auf. Sie nahm ihren Mantel vom Bett und sagte mit kalter Höflichkeit: „Selbstverständlich, Herr Vëantur, ganz wie Ihr wünscht!“ Ohne ihn anzusehen, ging sie hinaus und die Treppe hinunter, der Meister folgte ihr eilig. „Es tut mir so leid, Fräulein Branwoldsdotor. Damit haben wir nicht gerechnet, bitte, verzeiht! Aber wir können nichts tun!“ Abrupt blieb Evenila stehen und drehte sich zu ihm um. Sie hatte das Gefühl, jeden Moment platzen zu müssen. „Ich mache Euch keinen Vorwurf, Ihr hattet keine Wahl. Aber Ihr könnt sehr wohl etwas tun! Ihr könnt mir einen Boten zum Haus von Schwertmeister Arciryas Vorondilion schicken, wenn sich etwas ändert – egal, ob zum Guten oder zum Schlechten! Damit ich wenigstens auf dem Laufenden bleibe!“ Der Meister versprach es hoch und heilig.

Voll innerlichem Aufruhr marschierte Evenila zu Arciryas Haus hinunter. Am liebsten hätte sie ihre Wut und ihre Verzweiflung hinausgebrüllt, aber natürlich stand dies nicht zur Auswahl. Im Haus angekommen, verspürte sie für einen kurzen Moment den Drang, irgend ein Ding gegen die Wand zu schmettern, aber damit hätte sie ja nur Arciryas bestraft.
Also setzte sie sich auf den Balkon und versuchte angestrengt, sich mit Lesen abzulenken, was ihr bestenfalls mäßig gelang. Gegen Abend kam Arciryas schließlich nach Hause. Inzwischen war Evenilas größter Zorn jedoch verraucht und sie war in der Lage, ihm verhältnismäßig gefasst von der neuen Entwicklung zu berichten. Dafür allerdings wurde Arciryas nun wütend. „Das kann doch nicht deren Ernst sein, oder? Das können sie nicht tun!“ „Leider doch“, entgegnete Evenila resigniert, „Das können sie sehr wohl, da sie nun die Verfügungsgewalt haben. Und dass sie mich hassen, dass weißt du ja bereits. Von daher kommt ihr Handeln eigentlich nicht völlig überraschend!“ Sie legte das Buch beiseite und erklärte: „Es ist völlig ungewiss, wie lange man Fiondil nun in diesem Betäubungsschlaf halten wird. Niemand weiß, wann Großmeister Calandur eintreffen wird und niemand weiß, ob der dann auch gleich eine Lösung parat hat, wenn er hier ankommt. Es ist somit auch völlig ungewiss, wie lange ich warten muss, ich kann nicht auf unbestimmte Zeit weiterhin dein Gästezimmer mit Beschlag belegen.“ Ohne zu zögern, legte Arciryas sofort Protest ein. „Und ob du das kannst! Ich erwarte in den nächsten hundert Jahren keinen Besuch, der da drinnen nächtigen wollte, also bleib´ bitte, solange wie es eben dauert. Ich habe kein Problem damit und es wäre daher reine Geldverschwendung, wenn du dir ein Zimmer in einer Herberge suchst.“

Zutiefst gerührt bedankte sie sich bei ihm. Dann jedoch fiel ihr noch etwas ein. „Ich.. Ich habe eine Frage!“ Neugierig sah er auf. „Da ich jetzt nicht mehr ins Haus der Heilung darf, brauche ich etwas zu tun. Wenn ich die ganze Zeit nur lese und Laute spielen übe und hier ein bisschen kehre, dann… dann werde ich wahnsinnig, glaube ich! Ich kann nicht einfach den ganzen Tag herumsitzen und darauf warten, dass vielleicht eine Nachricht kommt.“ Arciryas nickte. „Das verstehe ich gut! Ginge mir nicht anders!“

Evenila holte tief Luft. „Ich möchte dich bitten, mich im Umgang mit einem Dolch zu unterrichten. Da hätte ich Bewegung, könnte mich abreagieren und vor allem möchte ich lernen, mich selbst wenigstens ein bisschen verteidigen zu können.“ Etwas überrascht blinzelte er, wirkte jedoch nicht ablehnend. „Nila, der Dolchkampf ist eine dreckige Sache! Du musst deinen Gegner nah an dich herankommen lassen und meist artet es in ein Handgemenge aus. Du musst sehr geschickt sein und Reflexe wie ein Luchs haben, da ein Kampf mit Dolchen stets sehr schnell geführt wird, also eine schnelle Abfolge von Stichen und Schnitten ist. Ich würde dir eher ein Kurzschwert empfehlen.“ Sie dachte einen Moment über seine Worte nach und antwortete dann: „Also, wenn es dir nichts ausmacht, dann bitte beides!“ „Also gut, versuchen wir es“, stimmte er zu, „Sehen wir mal, wie du dich so anstellst… Kannst du gut tanzen?“ fügte er nach einer kurzen Pause hintenan.
Irritiert zog Evenila eine Augenbraue nach oben. Sie rief sich diverse Tavernen-Abende während ihres Studiums in Erinnerung und antwortete dann zögernd: „Äh, ja? Soweit ich das beurteilen kann, schon, glaube ich?“ Arciryas nickte zufrieden. „Sehr schön. Dann sind die Voraussetzungen gar nicht schlecht. Aber zunächst einmal werden wir Kraft und Schnelligkeit trainieren, bevor ich dir irgend welche Bewegungsabläufe zeige!“

So geschah es. Noch am selben Abend waren sie gemeinsam in die nun leere Halle der Kampfkunst gegangen und hatten das Training begonnen.


--Fortsetzung folgt
"Das Leben ist ein dorniger Rosenstock und das Glück die Blüte."

"So, könnt ihr alle noch schnaufen? Ich will ja nicht schuld sein,
wenn jemand während des Tanzens erstickt!"

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