Wer ist eigentlich Kritze?

Geschichten aus Tolkiens Welt vom Herrn der Ringe und anderen Werken.
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Kritze Kleckser
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Registriert: Samstag 30. Dezember 2017, 08:43

Wer ist eigentlich Kritze?

Ungelesener Beitragvon Kritze Kleckser » Samstag 30. Dezember 2017, 16:21

Die feinen Härchen stoben auseinander und glitten sanft und mit gekonntem Schwung über die zarte, leicht poröse Haut. Die Hände, die sie führten, verstanden ihr Werk, die Ergebnisse konnten sich sehen lassen. Dafür waren sie ja auch da, um gesehen zu werden. Nur für einen Augenblick wurden die Härchen ins Wasser gesteckt. Mit den richtigen Bewegungen brauchte es nicht mehr, um die Farbe beinahe restlos herauszuwaschen. Und schon verfingen sich die nächsten Farbpartikel zwischen ihnen.
"Schau mal nach links." ordnete eine schräg klingende Männerstimme an. Und schon zogen die Härchen ihre nächste Bahn, hinterließen eine bunte Spur und verdeckten damit den natürlichen Teint der jungen Dame, der etwas weniger blass war als hier üblich. "So, fertig." Der Handspiegel schimmerte im Sonnenlicht und war am Rand mit leichtem Raureif besetzt. Ihr Gesicht wurde von allen Seiten gespiegelt. "Danke Paps." sagte ihre helle Stimme, "Wie immer perfekt."

Man konnte eher selten belauschen, wie ein Mädchen, das offensichtlich dem Volk der Halblinge entstammt, einen Mann, der offensichtlich nicht dem Volk der Halblinge entstammt, "Paps" nennt, doch hier scherte sich niemand darum. Viele der Leute des G.L.O.B.U.S. waren damals selbst dabei gewesen, vor mittlerweile so vielen Jahren, und die anderen hatten spätestens beim ersten schrägen Blick die Geschichte erzählt bekommen, die mit jedem verstrichenen Monat ein wenig abenteuerlicher wurde, die Geschichte von Kritze und Gustav und wie sie einander fanden.

Wer sie heute erzählt bekäme, der würde wohl ein halbes Heldenepos aufgebunden kriegen, würde von einer Verfolgungsjagd durch die Hügelgräber hören, mit Bären auf den Fersen und bewaffnet nur mit einem Schmiermesser, dessen Klinge abgebrochen war, würde von Geheimgängen erfahren, die unter Bergen hindurchführten, angefüllt mit riesigen Giftspinnen und von Zaubersprüchen, die einen Räuberhäuptling in einen streunenden Hund und seine Bande in eine Horde Flöhe verwandelten, die ihn bis heute piesackten und vielleicht würde sogar ein Drache oder ein Troll darin vorkommen oder eine monströse Sumpfkröte. Aber was will man auch erwarten, wenn eine Geschichte über viele Jahre nur von Leuten weitergetragen wird, deren Beruf es ist, Geschichten zu erfinden!

Kritze wusste zwar nicht mehr alles, sie war noch zu jung als dass ihr Gedächtnis all diese Eindrücke hätte behalten können, aber Gustav erinnerte sich genau an jede noch so kleine Einzelheit, so wie sie sich wirklich begeben hatte. Und als hätten sie einen geheimen Pakt geschlossen, schwiegen sich beide über die Wahrheit aus und genossen die Gerüchte und die Abenteuer, die ihnen zugeschrieben wurden. In diesen Geschichten rettete Gustav Kritze aus den bedrohlichsten Situationen, kein Wort von dem Mann, der sie damals wimmernd und zitternd am Waldrand gefunden und mit ihr sechs Tage in einer Stadeler Kneipe verbracht hatte. Ein erfolgreich verjagtes Wolfsrudel, der hinterhältige Angriff durch halb verhungerte Bären oder der glorreiche Kampf gegen auferstandene Tote klangen einfach besser als die feige Flucht vor einer dreckigen Räuberbande und endlose Diskussionen, welchen Weg man denn nun einschlagen sollte, um eben jenen Räubern nicht erneut zu begegnen.

So war es nämlich damals passiert: Kritze war vor lauter Trotz gegen ihre Eltern von daheim entlaufen und hatte sich mir nichts, dir nichts, auf den für ein Kind unübersichtlichen und überhaupt nicht logisch angeordneten Straßen verirrt. Zufällig kam ein Bauer aus Stadel, dessen Gemüt eher eines der einfacheren Gemüter unter Eriadors Himmel war, vorbei und hat Kritze mit dem ehrlichen Vorsatz, helfen zu wollen, kurzerhand auf seinem Wagen mit zu sich nach Haus genommen. Allerdings war das Denken nicht gerade seine Stärke und so wusste er, kaum dass er in Stadel angekommen war, nicht, was er mit dem Halblingkind denn nun eigentlich anfangen sollte. Also ging er mit ihr in die örtliche Kneipe, wo Kritze die nächsten Tage schlafen, essen, schlafen, essen, schlafen und essen konnte, währen er schlief und trank und schlief und trank, bis die durchreisende Schaustellertruppe, denen auch der Herr Klecks, den Kritze Jahre später statt mit "Gustav" oder "Herr Klecks" mit einem einfachen "Paps" ansprach, angehörte, in eben jener Kneipe eine erfrischende Rast einlegte.

Es dauerte nicht einmal zwei Bier lang, da kannte die Hälfte der Reisenden die Geschichte des redseligen Bauern und sein Dilemma mit dem Halblingmädchen, das er in guter Absicht eingesammelt und seither aufbewahrt hatte. Welch glücklicher Zufall es da war, dass die Schaustellertruppe auf dem Weg zu Thorins Hallen ware und in den nächsten Tagen das Auenland durchqueren würde, also boten sie ihm an, das Mädchen in ihre Obhut zu nehmen und bei ihresgleichen abzuliefern, man würde dort schon die besorgte Familie ausfindig machen. Und so landete Klein-Kritze, wie sie auf ein Mal genannt wurde, inmitten von Gauklern und Witzereißern in einem Planwagen, wo mit ihr gespielt, gealbert und geschmust wurde, bis es etliche Stunden später einen unangenehmen Knall gab und die Fahrt ein jähes Ende fand.

Durch ein kleines, doch beachtliches und aus irgendeinem Grund verstecktes Loch im Boden war ein Rad des Wagens geborsten und noch ehe man darüber sinnieren konnte, warum dort ein verstecktes Loch war, kamen von allen Seiten gröhlende Räuber auf den Wagen zugestürmt, die nicht gerade den Eindruck machten, helfen zu wollen. Als das erste Wurfmesser durch die Plane in den Wagen und auf der anderen Seite durch selbige Plane wieder aus dem Wagen heraus flog und draußen irgendetwas, vermutlich einen der Räuber, mit einem schmatzenden Geräusch traf, schickten sich die Schausteller an zu fliehen und rannten in alle Richtungen davon. Einige schafften es, andere schafften es nicht, jedenfalls trafen etwa acht von ihnen nach und nach auf den nördlichen Breefeldern ein und sammelten sich zu einer kleinen Gruppe, unter ihnen Herr Kleckser und Kritze, die diesen bis dato nur als Grimassenschneider kennengelernt hatte. Und dann begann eine lange Diskussion, wohin es denn nun eigentlich gehen sollte.

"Wir müssen weiter zu Thorins Hallen." sagten die einen, "Wir dürfen nicht nochmal riskieren, den Räubern zu begegnen." sagten die anderen, "Ich hab' Hunger." sagte Kritze. Irgendwann wurde beschlossen, nach Norden aufzubrechen und einen Umweg zu Thorins Hallen zu nehmen, und da sämtliche Karten mit dem Planwagen zurück- und den Räubern überlassen worden waren, wusste man bald nicht mehr, wo man sich eigentlich befand, geschweige denn, welcher Weg zum Ziel führen würde, Also orientierte man sich an der Temparatur und folgte der Kälte, da auch niemand der Anwesenden wusste, wie man sich von den Sternen leiten ließ, bis man schließlich, einige für Unterkunft und Logie improvisierte Auftritte, unendliche Fußmärsche, die Kritze meist auf irgendwelchen Schultern verbrachte, und ein paar kleinere Abenteuer später, in Frostfels landete. Hier wurde händeringend nach Schauspielern und Schaustellern für ein alljährliches Fest gesucht, das bald stattfinden sollte, also richtete sich die Truppe kurzerhand in Frostfels ein. Herr Kleckser bemerkte, dass sich irgendjemand des Halblingmädchens annehmen und sich um sie kümmern musste, woraufhin ihm alle zustimmten und sich bei ihm bedankten.

So war das damals gewesen, aber daran erinnerte sich bald niemand mehr, abgesehen von Gustav und Kritze, die es nicht erzählten. Sie hatten seither vieles miteinander erlebt, im Frühling und im Sommer suchten sie die Theater an den verschiedensten Orten Eriadors auf oder spielten auf improvisierten Bühnen, im Winter fanden sie ein warmes Plätzchen in Frostfels und sorgten dafür, dass die Aufführungen des örtlichen Theaters fast immer ein großer Erfolg wurden. Gustav gab Kritze Unterricht und Anweisungen im Schauspiel, obwohl er selbst nie vor Publikum gestanden hatte, sondern als Maskenbildner damit beschäftigt war, die Schauspieler zu schminken und ihre Kleider zu färben oder zu verzieren, aber er stand während der Darstellungen oft im Publikum um seine Masken aus der richtigen Perspektive zu sehen und hörte die unverfälschte Kritik der Zuschauer, die er ebenso unverfälscht an Kritze weitergab. So mauserte sich das verlorene kleine Halblingmädchen zu einer leidenschaftlichen Schauspielerin, deren zu Hause die Bretter der Welt wurden und da sie mit zunehmendem Alter nicht mehr als "Klein-Kritze" vorgestellt werden konnte, brauchte sie einen Nachnamen. Ihren richtigen Nachnamen wusste sie nicht, also übernahm sie der Einfachheit halber den ihres unfreiwilligen Ziehvaters und ist seit einigen Jahren als Kritze Kleckser bekannt.

Herr Gustav Kleckser, der meisterhafte Maskenbildner, verstarb vor einigen Monaten unter einem schlecht verschraubten Bühnenbild, was in Kritze jene gewisse Kälte erzeugt hat, wie sie in jedem erzeugt wird, der unerwartet seinen Herzenswärmer verliert. Und da das G.L.O.B.U.S.-Theater unter seinen "hundsmiserablen Organisatoren", wie Kritze sie bezeichnet, zu zerbrechen droht, was ihre Gemütsstimmung nicht eben verbessert, und schon etliche Schausteller das Weite gesucht haben, zieht auch Kritze nun allein mit sich selbst und den Gedanken an ihren Ziehvater und die besseren Tage des G.L.O.B.U.S.-Theaters durch die Welt und sucht einen Weg, ihr eigenes Theater aufzubauen oder zumindest Teil einer Schaustellertruppe zu werden, die mit einer besseren Organisation aufwarten kann als das Theater, mit dem sie ihn seinen glorreichen Zeiten groß geworden ist.

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