Wie die kleine Milli zu einem Zwerg wurde

Geschichten aus Tolkiens Welt vom Herrn der Ringe und anderen Werken.
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Millefolia
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Wie die kleine Milli zu einem Zwerg wurde

Ungelesener Beitragvon Millefolia » Donnerstag 29. September 2016, 01:52

Einleitung durch Bettulia, die Tante von Milli:

Nun ihr müsst wissen, dass es so einige Geschichten gibt, die immer und immer wieder erzählt werden im Hause Minzbeer. Es sind meist uralte Schwänke, über irgendwelchen Ahnen, die vor unzähligen Jahren einmal etwas geleistet haben sollen, erzählt von verstaubten Hobbitherren und -damen, von drittem oder viertem Verwandtschaftsgrad.
Ich selbst bevorzuge da eher lustige Geschichten. Eben deshalb, weil man über ein Ereignis erst dann wirklich lachen kann, wenn es ein paar Jahre oder gar Jahrzehnte zurückliegt.
Besonders Ereignisse, die einen selbst betreffen, scheinen erst von einem reiferen Blickwinkel aus betrachtet humoristisch, wenn der Schleier der Nostalgie, bereits peinliche Erinnerungen überschattet hat.
Vielleicht darf man an dieser Stelle eine Ausnahme nennen von dieser Binsenweisheit: Junge Hobbits, insbesondere Tweens, sind mit solchen Geschichten ganz furchtbar aufzuregen und ich muss gestehen, dass es gerade deshalb Freude macht, die Erinnerungen aus ihren Kindertagen hervorzukramen.
Eine meiner liebsten Erinnerungen betrifft meine Nichte Milli und auch wenn ich nicht während des gesamten Ablaufs zugegen war, so hat sich doch, über die vielen Abende an denen die Geschichte im Kreise der Familie aufgewärmt wurde, ein Gesamtbild ergeben.
Es wird euch interessieren zu Hören, wie Milli zu einem Zwerg wurde:


Die Geschichte beginnt mit dem kleinen Hobbit Pettulio Minzbeer – der ältere Bruder von Milli –, der von seinem Großonkel, auf dessen Schoß er saß, gefragt wurde, was er denn später einmal werden wolle. Eben dieser Großonkel, war einen Tag zuvor achzig Jahre alt geworden und hatte an alle jungen Hobbits Holzschwerter verteilt, da er sehr hoffte, die Kleinen würden dadurch dazu verführt, später die Laufbahn eines Grenzers einzuschlagen, die er in seiner Jugend selbst verfolgt hatte. Pettulio ließ mit der Antwort nicht lange auf sich warten und fuchtelte mit dem Schwert wild umher, wobei er den alten Hobbit beinahe an der Nase traf: „Ich will ein Tschwerg sein!“

Das brachte alle im Raum befindlichen herzlich zum Lachen. Die Großmutter lachte; die Mutter lachte; und auch ich konnte mich kaum noch zurückhalten. Nur Milli schaute hinter dem Rockzipfel ihrer Mutter hervor und sah dabei erfurchtsvoll ihren großen Bruder an. Die Vierjährige hielt ihn für den Größten und man kann kaum beschreiben wie niedlich sie war, wenn sie ihm und seinen Freunden, den ganzen Tag hinterherzudackeln pflegte.

Pettulio, der die fröhlichen Gesichter der Erwachsenen für einen Ausdruck von Zustimmung hielt und es genoss im Mittelpunkt zu stehen, fuhr fort: „Immer wenn ein Tschwerg zu Papas Laden kommt“ (er spricht hier von dem Heilmittelhandel meines Schwagers) „da schauen ihn alle Kunden an und tuscheln ganz doll. Das ischt, weil sie soooooooo“, dabei machte er eine ausladende Geste mit den Armen, „schtark sind die Tschwerge, dass alle Angscht vor ihnen haben! Und der Bogo hat gesagt, dass sie tschaubern können. Mit ihren Bärten! Ich werde auch ein Tschwerg!“

„Nun mein Lieber. Ich glaube nicht, dass...“, fing der Großonkel an, während Pettulio von seinem Schoß sprang und anfing mit seinem Holzschwert auf das Tischbein einzuschlagen. Ein Räuspern der Großmutter und ein Kopfschütteln der Mutter unterbrachen die Erläuterung des Alten. Auch ich brachte es nicht übers Herz dem Kleinen die Wahrheit zu sagen, nämlich, dass sein Berufswunsch außerhalb alles Möglichen lag.

Ich beugte mich zu meinem Neffen hinab und sagte: „Leider braucht man einen Bart um ein Zwerg werden zu können. Das ist Vorschrift.“ Dabei versuchte ich einen so ernsthaften Gesichtsausdruck wie möglich zu behalten. Es war eine dieser Lügen, die erwachsene Hobbits in Kauf nehmen müssen, um ihre Hobbitlinge noch ein bisschen länger vor der schnöden Wahrheit zu schützen, oder sie zumindest in kleinen Happen zu servieren. Und wer kann es mir verdenken?

Doch als ich so auf ihn herab sah, stand der kleine mit Tränen in den Augen da. „Das heischt ich kann kein Tschwerg werden?“, stellte Pettulio schniefend fest und sein Schwert rutschte ihm, wie eine Metapher seines gescheiterten Kindheitstraumes, aus der Hand und schlug mit einem dumpfen klappern auf dem Küchenboden auf. Da hörte ich mich sagen: „D...Doch natürlich! Natürlich kannst du ein Zwerg werden Petto! Bestimmt treiben wir irgendwo einen Bart für dich auf! Ganz bestimmt!“
Und um das ganze auch noch zu untermauern, tapste Milli hinter ihrer Mutter hervor, hob das Schwert mit beiden Händen auf und stupste damit ihren Bruder an: „Will auch Twerg werden!“
Ich erntete einen verurteilenden Blick von meinem Onkel dafür.

Pettulio, der – wie kleine Hobbits eben so sind – die ganze Trauer in Windeseile vergessen hatte, nahm seiner Schwester das Schwert weg und meinte mit einer großmütigen Miene: „Du kannst kein Tschwerg sein. Höchschtens mein Tschwerglehrling!“

So verbrachte ich die nächsten Tage damit einen Bart aus brauner Wolle zu stricken. Der junge Hobbit war außer sich vor Freude, als ich ihn präsentierte und man sah Pettulio, sehr zur Verwunderung seines Vaters und zum Leidwesen seines Großonkels, selten ohne den Bart durch Waldhof spazieren. An seinen Fersen immer seine Schwester Milli.

Das Folgende wurde mir nur nacherzählt, aber laut einiger Zeugenaussagen muss ein Gespräch der beiden Hobbitlinge, sowie das darauffolgende Unglück, ungefähr in diesem Rahmen verlaufen sein:

Milli war sehr ungehalten über ihren Bruder. Dieser hatte sie den ganzen Tag schon ignoriert, während er mit seinen Freunden Bogo und Bingo „Hosen voll vorm Hölentroll“ gespielt hatte.
Ein Spiel bei dem einer einen Troll spielte – wenngleich die Kleinen nicht wussten, was das seien sollte – und die anderen die Hobbits, die sich an den Troll anschlichen. Sobald sich der Troll umdrehte, mussten sie wie erstarrt stehen bleiben. Pettulio war natürlich kein Hobbit, sondern ein Zwerg und löste das Problem, indem er auf den Troll (Bogo) zu rannte und ihn mit seinem Holzschwert erdolchte: „Du bischt tot!“„Nein, du bist tot!“ „Bin ich nischt!“ „Doch bist du Petto! Das gilt nicht!“

Zwischen die aufgebrachten Jungenstimmen mischte sich eine helle, quitschige Stimme: „Jetzt will Milli Twerg sein!“
Der große Bruder, der den Streit offensichtlich gewonnen hatte, stützte sich auf seine Holzwaffe und antwortete mit einem breiten Grinsen: „Du kannscht kein Tschwerg sein Milli! Du musscht einen Bart haben, so wie ich! Und den wirscht du niemals haben, weil mir den nämlich ein Obertschwerg geschenkt hat. Man kann ihn nur von einem Tschwerg bekommen, wenn man gut ist!“
Die Kleine schaute verwirrt zu Petto auf: „Will auch!“
„Kannscht du aber nich! Nur von einem Tschwerg!“ erwiderte dieser und kam sich dabei mächtig gerissen vor. „Von einem Twerg?...“, wiederholte Milli und schien ihr Schicksal fürs erste zu akzeptieren.

Am darauffolgenden Tag saß Milli auf der Theke der kleinen Apotheke, die ihr Vater Millbrand an sein Smial angebaut hatte, um dort Kunden zu empfangen. Dann und wann, wenn die Mutter mit Petto Verwandte besuchen war, durfte die Tochter von dort aus zusehen, wie Millbrand sein Geschäft führte. Normalerweise ließ sie sich nicht weiter von den hereinkommenden Hobbits ablenken, wenn sie wieder einmal ein Smial aus kleinen Schächtelchen baute, oder ihr Gesicht gegen das Glas eines großen Gefäßes drückte, um durch die Flüssigkeit die Welt dahinter verzogen und traumhaft zu sehen. Nein sie war immer sehr gut beschäftigt gewesen. Bis an jenem Morgen ein besonderer Gast hereintrat.

Der alte Zwerg war Stammkunde in „Millbrands Heilmittelhandel“. Was bedeutete, dass er, wann immer er von Bree nach Ered Luin reiste, einen kleinen Aufenthalt in Waldhof einplante, um sich eine Salbe für seine Gichtfinger zu holen.
Milli hatte ihn auch schon einige Male gesehen. Wahrscheinlich war das sogar der einzige Zwerg, den die Minzbeer-Geschwister überhaupt jemals zu Gesicht bekommen hatten. Aber man kann sich denken, dass das kleine Hobbitmädchen ganz aus dem Häusschen war, denn der Zwerg hatte den imposantesten, grauen Bart, den sie je gesehen hatte (wobei er sehr Konkurrenzlos dastand, wenn man ehrlich ist).

Der bärtige, schon etwas kurzsichtige Kunde schaute sich mit ärgerlichem Blick nach dem Apotheker um, der gerade eine fröhlich vor sich hin schwatzende Hobbitfrau bediente. Hektisch kletterte Milli von dem Tresen und lief zu ihrem Vater, den sie am Hosenbein zupfte: „Papa! Papa ein Twerg!“
Dem Angesprochenen war es jedoch nicht im entferntesten möglich, sich von der lauten Kundin loszueisen: „Beerchen... du siehst doch, dass ich gerade arbeite. Geh schön spielen!“ Daraufhin wandte er sich wieder ab.

An jedem anderen Tag hätte Milli wohl ihrem Vater gehorcht und wäre wieder auf die Theke geklettert. Ihre Aufregung über das Erscheinen eines Zwerges jedoch, ließ die Mahnung auf Taube Ohren stoßen, noch dazu, wo sich der Besagte gerade daran machte den Laden wieder zu verlassen.

So schnell sie ihre patschigen Hobbitfüßchen trugen folgte sie dem Zwerg, der sich glücklicherweise nicht zur Weiterreise entschied, sondern sich auf eine Bank vor dem Smial niedergelassen hatte, um die Wartezeit mit einem Nickerchen zu verkürzen. Mann muss dazu sagen, dass es ein sehr alter Zwerg war und er deshalb schon laut schnarchte, als Milli es endlich schaffte, die nach innen zu öffnende Tür, auch in die richtige Richtung zu ziehen.

Als das Hobbitkind nun vor ihm stand, war an ein Gespräch also nicht zu denken. Aber das störte Milli wenig, die den Bart des Zwerges nun im vollen Ausmaß sah: Die beiden Enden des Schnurrbarts reichten ihm bis in die Manteltaschen auf Höhe seiner Hüfte. Ganz zu schweigen von einem, mit dem Haupthaar verflochtenen Kinnbart. Mit kunstvoll gearbeiteten Klemmen, war der Bart in viele einzelne Bereiche unterteilt.

Wie unbeschreiblich unfair das war! Wieso hatte dieser alte, schrullige Kerl so viel davon und Milli hatte kein Haar im Gesicht. Aber wenn nur Zwerge einen Bart verschenken konnten, hatte er vielleicht mit Absicht einen so langen. Konnte es nicht sein, dass Zwerge ihre Bärte wachsen ließen, wie Mutter den Schnittlauch im Garten, um dann irgendwann etwas davon zu ernten und zu verschenken?

Für Milli war das sonnenklar. Der Zwerg musste nur gekommen sein, weil die Barternte anstand! Und wem sollte er es anders schenken wollen als ihr, wenn er doch ausgerechnet hier her gekommen war!

Sie hatte eine Entscheidung getroffen und lief wieder zur Apotheke zurück. Nachdem sie die Tür diesmal etwas zu heftig aufgedrückt hatte, rannte sie schnurstracks in Richtung Theke. Mit Hilfe einer Kiste war sie schnell hinaufgeklettert.

Millbrand, der gerade aus dem Hinterzimmer zurückkam und der Kundin verschiedene Fläschchen zeigte, warf einen Seitenblick auf Milli und wandte sich, nachdem er sich versichert hatte, dass seine Tochter immer noch an ihrem angestammten Platz war, wieder der Kundschaft zu:

„Das bekommen sie in dieser Qualität von hier bis Hobbingen nirgendwo mehr so!“

Milli schob im Hintergrund das große Glasgefäß ans Regal neben dem Tresen.

„Und das beste ist, ich habe das Kraut nicht nur als Tinktur, sondern auch als Pfeifenkraut da. Für ihren Gatten vielleicht?“

Das Hobbitmädchen war jetzt mit den großen Füßen auf den Deckel des Gefäßes gestiegen und schwankte merklich.

„Und meine Frau schwört darauf, dass es nicht nur Heilkraft hat, sondern auch ein ausgezeichnetes Mittel gegen Schönheit... verzeihen sie... für die Schönheit ist!“

Die oberste Schublade, war fast zu erreichen, wenn Milli sich ganz doll streckte. Und tatsächlich: Sie war offen und wurde blind durchsucht.

„Also ich vergebe ja normalerweise keinen Stammkundenrabatt. Außer die Kunden stammen von mir ab, wenn sie verstehen, was ich meine. Hahaha, war nur ein kleiner Scherz.“

Das Objekt der Begierde war geborgen und Milli stieg vorsichtig von dem Behälter. Die Schere war aus Metall und es fiel ihr schwer sie zu halten, deshalb ließ sie sie zuerst auf den Boden sinken, bevor sie sich hinunter hangelte. Auch das Ziehen der Tür war nun doppelt so anstrengend. Doch wenn man Milli etwas anrechnen kann, dann wird es wohl ihre Hartnäckigkeit sein. Leider war ein leises Schließen der Tür nicht mehr gewährleistet.

Mit einem dumpfen Knall flog die Tür zu. Die beiden erwachsenen Hobbits, wurden aus dem Gespräch gerissen. Millbrand drehte kurz den Kopf, da er einen weiteren Kunden vermutete, wandte sich jedoch schnell wieder der Hobbitfrau zu: „Also... wo war ich?“
„Aber Herr Minzbeer? Wo ist den ihre Tochter geblieben?“, stellte diese fest.

Nun man kann sich ja vorstellen, wo die „Tochter geblieben“ war. Sie hatte sich neben dem immer noch schlafenden Zwerg auf der Bank niedergelassen, die Schere gezückt und den Bart „abgeerntet“.

Kurz um: Millbrand hatte einen Stammkunden verloren, eine saftige Geldstrafe, wegen Körperverletzung, auszuzahlen und Milli hatte den schönsten Bart im ganzen Auenland, der ihren Bruder grün vor Neid werden ließ.
Worum es beim Geschrei und Gezeter ging, dass auf ihre Handlung folgte war ihr einerlei. Wie sollte sie in ihrem Alter auch verstehen, warum der Zwerg keine Dankbarkeit dafür zeigte, dass ihm die harte Arbeit des Bartstutzens abgenommen worden war. Sie war nun ein richtiger Zwerg!

Wo der Bart geblieben ist, dass weiß keiner so genau. Die offizielle Version besagt, dass sie den abgeschnittenen Teil des Bartes zurückgeben musste. Ich persönlich – und ich möchte damit keinerlei Gerüchte ins Leben rufen – glaube, dass sie ihn behalten hat.
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